Sonntag, 30. September 2018

Gedanken zum Gedicht »Irgendwo« von H.C. Artmann

Nirgendwo ist irgendwo. Aber wo ist Nirgendwo? Überall? Nein.

Das Irgendwo des Nirgendwo liegt im Auge des Betrachters. Nirgendwo ist ein Ort. Kein Film zeigt ihn auf. Kein Spiegel wirft ihn. Dennoch ist er da. Nur dort, wo unser Blick hinfällt, ist er nicht. Selbst wenn wir unseren Blick überall hinwerfen könnten, das Nirgendwo fänden wir nicht. Das Nirgendwo liegt im Auge dessen, der in die Welt blickt. Blickt ein anderer in diese Augen, liegt das Nirgendwo woanders. Mit dem Nirgendwo ist es wie mit der Wahrheit. Beide liegen irgendwo dazwischen. Das Nirgendwo an und für sich wird keiner erfassen, sondern bestenfalls den Honig unter Kanditen, den vergoldeten Zuckerhut, die Biene aus dem Wabengebilde Immenhäusle.

Aber, so könnte man fragen, wo bleibt das Nirgendwo, wenn es zwei davon gibt? Wenn zum Beispiel ein Mann in die Augen einer Frau blickt und gleichzeitig die Frau in die Augen dieses Mannes? Aus der Sicht des Mannes sind die Augen der Frau die Welt und seine eigenen Augen das Nirgendwo. Aus der Sicht der Frau sind die Augen des Mannes dessen Nirgendwo und ihre eigenen Augen dessen Welt. Und auch wenn die Frau in den Augen des Mannes die Welt sieht, so bleibt das eigene Nirgendwo der Frau für den Mann doch die Welt. Jedes Nirgendwo blickt in eine andere Welt.

Nicht nur in sehenden und blinden Menschen wohnt ein Nirgendwo, sondern auch in einer Turteltaube, in einem Rebstock oder einem Brief mit Adresse, Postporto, Stempel. Unendlich viele Orte Nirgendwo blicken in unendlich viele Welten. Sogar die Kraft einer echten Aktie ist ein Nirgendwo. Was wäre zum Beispiel, wenn unsere echte Aktie sich selbst im Spiegel betrachten könnte? Nun, die Aktie, die sich so wertvoll fühlt, weil ihr die ganze Welt zu Füßen liegt, würde erkennen, dass sie einen Spiegel sieht, aus dem heraus sie von einer Aktie angeblickt wird. Ihre eigene Kraft sähe die echte Aktie dann wohl nirgendwo.

Zum Schluss könnte man noch fragen, wo das Nirgendwo nicht ist. Das Nirgendwo ist überall dort nicht, wo jemand ist. Wenn die Frau zum Beispiel sich selbst mit den Augen des Mannes sieht, dann kommt das Nirgendwo in Bedrängnis. Und wenn der Mann in die Augen der Frau blickt, die durch seine Augen sich selbst sieht, dann wird es wirklich eng für das Nirgendwo. - Der Schlüssel zur Liebe ist die Geduld, der Schlüssel zur Geduld ist die Dankbarkeit. Die Dichter und Dichterinnen dieser Welt nehmen sich die Zeit, um die Orte Nirgendwo dem Reich der Liebe einzuverleiben.