Donnerstag, 12. November 2020
Medienkompetenz
Dienstag, 10. November 2020
Dünnhäutig - ein Essay
Der Sinn des Lebens besteht darin, so zu leben, dass einen das Leben freut. Oder kurz: Der Sinn des Lebens ist die Lebensfreude. Aber freue ich mich über die Tatsache, dass ich am Leben bin?
»Herr, ich bitte dich, hilf mir«, seufzt der Dünnhäutige in seiner Not. Und Gott antwortet: »Was möchtest du konkret?« »Ich suche irgendetwas, an dem ich mich festhalten kann«, gibt der Dünnhäutige zurück. »Dein Halt ist der freie Fall«, sagt Gott trocken. »Ich kann nicht tiefer fallen als in Gottes Hand«, sagt der Dünnhäutige zu sich selbst. Und dann: »Herr, was soll ich tun?« Gott aber antwortet dem Dünnhäutigen: »Du sollst in dich gehen und dich selbst erkennen. Du sollst gut darin werden, dich selbst zu kennen. Du sollst dich gut spüren und in dir ruhen. Kümmere dich nicht um deine Außenwirkung. Kümmere dich um dein Innenleben und dein Wohlbefinden. Kümmere dich um dein Tageswerk und sei damit zufrieden. Deine Arbeit sei ein Geduldspiel. Lass dich von niemandem überfordern. Und überfordere dich nicht selbst. Du machst deine Sache gut genug.«
Wenn ich das Gefühl habe, dass ich meine Sache gut mache, dann kann ich mich auch freuen. Gott sagt mir, was meine Aufgabe ist. Gott ist gütig, weise, wohlwollend, verstehend, verzeihend, hilfsbereit – er ist all das, was ich so dringend brauche und was mein leiblicher Vater nie gewesen ist. Ich muss mich über Gott nicht ärgern. Und wenn die Welt zugrunde geht, so liegt das daran, dass manche Menschen ihren Frieden mit sich selbst und Gott nicht finden.
Mittwoch, 9. September 2020
Vermutungen
Nazis und sogenannte »normale« Bürger demonstrieren gemeinsam gegen die Anti-Corona-Politik der Regierung. Der »normale« Bürger könnte behaupten, dass »die Regierung« den Nazi dazu benutzt, um ihn, den »normalen« Bürger zu diskreditieren. Ich bekenne, dass mich die Argumente der »normalen« Bürger gegen die Anti-Corona-Maßnahmen nicht überzeugen. Aber die Tatsache, dass Nazis auf die Protestwelle aufspringen, spricht an sich (noch) nicht gegen die Argumente der »normalen« Bürger.
Eines fällt auf: Die Problematik rund um Corona ist grenzenlos komplex, widersprüchlich und verwirrend. Gleichzeitig formulieren die Menschen klare Positionen und Meinungen. Auf welcher Grundlage eigentlich? Was allein in meinem persönlichen Umfeld alles behauptet wird, kann ich niemals überprüfen. Ich bin auf Vermutungen angewiesen. Und ich glaube, dass auch Wissenschaftler*innen, Politiker*innen und Journalist*innen bestenfalls Vermutungen anstellen können.
Vielleicht ist die Vorstellung obsolet, dass wir über Wissen verfügen, rational handeln und moralisch vernünftig entscheiden. Und vermutlich sollten wir uns vermehrt mit unseren Ängsten auseinandersetzen - jede*r für sich und alle gemeinsam.
***
Donnerstag, 21. Mai 2020
Offener Brief an Elisabeth Götze
Montag, 27. April 2020
Corona-Rap
Samstag, 25. April 2020
Eine dystopische Erzählung
Er lebte am Waldrand in einer Wohnung der Gemeinde Wien, hatte Natur um sich, nur wenige Schritte vom Haus entfernt. Er ging jeden Tag laufen, absolvierte Routen über viele Kilometer. Nach dem Duschen und einem Frühstück schrieb er weiter, fertigte literarische Miniaturen an, wie er sie nannte, wollte den spielerischen Umgang mit Sprache, Text und Form üben.
Jeden Sonntag bekam ich eine Mail von ihm - mit Anhang. Dort fand ich einen seiner neuen Texte, den ich gewissenhaft las und kommentierte. Es tue ihm gut, einen Abgabetermin zu haben, sagte er einmal, denn das halte ihn im Fluss. Damit meinte er den Schreibfluss, den heiligsten Zustand im Leben eines Autors.
Eines Sonntags im November bekam ich keinen literarischen Text von meinem Freund. Er schickte vielmehr das Ergebnis einer Recherche über die damals neuen E-Scooter. Ich erfuhr von drei konkurrierenden Unternehmen, zwei US-amerikanischen und einem deutschen, die sich in Wien angesiedelt hatten, um den Markt zu erobern. Die Roller konnte nur nutzen, wer im Besitz einer Kreditkarte und eines Smartphones war. Jonas schien darin kein Problem zu sehen. Er wusste nicht, dass ich zu jener Zeit ein aufsehenerregendes Buch las, das sich mit dem Überwachungskapitalismus auseinandersetzte. Auf die Reportage meines Wiener Schreibfreundes reagierte ich mit heftigen Einwänden. Ob er die Gefahren nicht sehe? Es gehe nur vordergründig um Datenakkumulation, vielmehr drohe das Ende von Privatsphäre und der Beginn einer völlig neuen Ära von Ausbeutung und Sklaverei! Doch das rührte Jonas nicht. Verzicht sei für ihn kein Allheilmittel, erklärte er. Und wenn er sich sein Leben mit einer technischen Lösung verbessern könne, wolle er diese nutzen. Zu streiten erschien mir sinnlos. Deshalb schlug ich ihm eine Wette vor. Ich wettete darauf, dass ich den Zustand der Welt, in der wir zehn Jahre später leben würden, treffender beschreiben konnte als er, setzte den Betrag von hundert Euro – und war überrascht, dass Jonas, der vorsichtigste Mensch, den ich kannte, meine Herausforderung annahm.
Damals war ich davon überzeugt, dass die Entwicklung rund um die Künstliche Intelligenz die Freiheit des Einzelnen Schritt für Schritt demontieren würde. Ich dachte nicht an die Bewegungsfreiheit, wohl aber an die Gedankenfreiheit. Ich sah eine neue Klassengesellschaft entstehen. In ihr würde die große Masse der Menschen die Klasse der Schafe bilden, die abgestumpft und wahrnehmungsgestört dorthin läuft, wo die Herrschenden sie haben wollen. Die Herrscherklasse wäre ein elitärer Zirkel, eine Clique, die sämtliches Kapital der Welt an sich rafft, eine Art Donald-Duck-Club. Der Hauptgott dieser neuen Feudalherren hätte den Namen: »Mehr!« Die dritte Klasse bestünde aus den Künstlern und Intellektuellen. Diese Menschen wären gebildet, hinreichend versorgt, selbstbewusst, aber letztlich machtlos. Sie würden sich so gut vernetzt wie informiert fühlen, würden denken, sie haben Zugang zu allem, was sie für ihre Arbeit brauchen. Sie würden an Veränderbarkeit, Einfluss und Wirkung glauben, wichtig sein und Geschichte schreiben wollen. Dabei würden sie nicht merken, dass sie nur mit sich selbst beschäftigt sind und der Weltgesellschaft, bestehend aus Schafen, völlig egal.
Jonas in Wien sah das anders. Er wollte erkennen, dass es den Jungen, seinen Kindern, besser ging als ihm in seiner Adoleszenz. Er konnte zwar sentimental werden, wenn er registrierte, dass etwas unerwartet verschwand, was es lange gegeben hatte, oft länger als er denken konnte, für immer verschwand, weil ersetzt durch etwas Moderneres, Besseres, Leistungsstärkeres. Aber ich kannte ihn als einen Menschen, der sich letztlich anpasste und fügte. Und in der Tat, Jonas entwickelte sich für mich zum letzten Intellektuellen unter den Schafen, zum letzten, der unbehelligt in der Weltgesellschaft verbleiben durfte - während ich vor mehr als drei Jahren aufgegriffen, nach Reykjavik geflogen und im Internierungslager für Kritische Intellektuelle untergebracht wurde, wo ich bis zum heutigen Tag festgehalten werde. Der Kontakt zu Jonas war damit durchschnitten. Ich weiß nicht einmal, ob er noch lebt.
Heute, am Tag, an dem ich auf all das zurückblicke, schreiben wir den 31. Dezember 2029. Wir haben im Lager nie Internet gehabt und alles, was hinausgeht oder hereinkommt, wird von den Überwachungsbeamten kontrolliert. Wir erhalten zwar Bücher und Zeitungen, können Radio und Fernsehen empfangen. Aber Telefone hat es für uns nie gegeben. Wir dürfen Briefe schreiben, aber sie werden von den Überwachungsbeamten gelesen. Wir dürfen in den Briefen nicht erwähnen, dass wir uns auf Island befinden. Wir wissen nicht, ob unsere Briefe zugestellt werden, denn wir bekommen nie eine Antwort. Und wir werden rund um die Uhr beobachtet. Sogar auf den Toiletten gibt es Überwachungskameras. Wir wissen zwar, was sich in der Welt außerhalb des Lagers abspielt, aber die Welt weiß von uns wahrscheinlich nichts.
Damals, vor etwa zehn Jahren, begannen Jonas und ich damit, Fragen zu sammeln, die man mit Ja oder Nein beantworten konnte. Zum Beispiel: »Wird es im Jahr 2029 in A/D (wir beschränkten unsere Prognosen auf Österreich und Deutschland) eine Regierung unter Beteiligung einer sozialdemokratischen Partei geben?« Oder: »Wird es im Jahr 2029 in A/D ein allgemeines, bedingungsloses Grundeinkommen geben?« Oder: »Wird man im Jahr 2029 in A/D noch mit Bargeld bezahlen können?« - Für unsere Wette waren jene Fragen interessant, die wir unterschiedlich beantworteten. Zum Schluss hatten wir zwei Zukunftsszenarien, eines von Jonas und eines von mir. Sie bildeten die Grundlage für unsere Wette.
Was uns zuerst auffiel: An manchen Sonntagen hatten wir keinen Zugang zum Internet, konnten also unsere Texte nicht pünktlich abliefern. Irgendwann bekam ich dann eine Mail von Jonas, in der er mich nach Wien einlud. Ich rief ihn an, wollte die Sache klären, aber er behauptete steif und fest, dass er mir keine solche Mail geschickt hatte. Das kam mir höchst seltsam vor. Als dann solche und ähnliche Dinge immer wieder passierten, verlor ich langsam mein Vertrauen zu Jonas. Auf die Idee, dass diese – um es vorsichtig zu formulieren – Ungereimtheiten irgendetwas mit der Wette zu tun haben könnten, kam ich lange nicht. Was Jonas zu diesen Dingen dachte, weiß ich nicht. Sein Verhalten wurde zunehmend merkwürdig. Irgendwann behauptete er, ich wolle ihn absichtlich verwirren, um schließlich behaupten zu können, er leide an Demenz. Ich hingegen hatte nie etwas von Demenz geschrieben, höchstens in einem meiner – literarischen! – Texte. Es war klar, dass er Dinge durcheinanderbrachte. Um mir eins auszuwischen, begann er, meine Texte auf vernichtende Art zu kritisieren. Mit den Texten an sich hatte das nichts mehr zu tun, das war klar. Er war beleidigt. Ich wurde wütend. Es war wie in einer Beziehung. Absurd. Irgendwann beschloss ich, nach Wien zu fahren. Unangekündigt. Ich wollte klären, was da los war. Ich weiß noch: Es war eine spontane Eingebung. Ich fuhr den Computer hoch, rief die Seite der Deutschen Bahn auf und ging, weil mir die Sache zu lange dauerte, Post holen. Ich staunte nicht schlecht, als ich ein Kuvert der Deutschen Bahn aus dem Fach holte. Darin war ein Code enthalten, der mir eine Ermäßigung in Aussicht stellte, wenn ich bis zu einem bestimmten Datum ein Zugticket kaufe. Konnte das Zufall sein? Ich bekam es mit der Angst zu tun.
Hier im Lager habe ich rasch verstanden, was damals gespielt wurde. Alle meine Kollegen haben ähnliche Dinge erlebt. Die Internetriesen im Silicon Valley hatten schon Ende der 2010er Jahre eine klare Vorstellung davon, wie die Weltgesellschaft organisiert sein müsse. Für uns sogenannte »Unberechenbare« kam nur die Rückführung ins analoge Zeitalter infrage. Angst habe ich jetzt keine mehr. Unser Leben ist nicht schlecht. Aber ich stelle mir zunehmend die Frage: Ist dieses Leben auch echt?
Ich fuhr damals nicht nach Wien. Und ich schrieb keine Mails mehr. Der Kontakt zu Jonas schlief ein. Ich vertiefte mich in die Lektüre belletristischer Literatur, las Romane, die in Wien spielten, von Peter Henisch und Michael Köhlmeier beispielsweise, und trauerte mit schwindender Intensität meiner Wiener Freundschaft nach. Irgendwann hatte ich die Wette mit Jonas so gut wie vergessen.
Dann kam ein Kuvert aus Wien. Jonas hatte einen Text ausgedruckt und bat mich um Kommentare. Der Text entpuppte sich als die Geschichte zweier Freunde, die eine Wette abschlossen, dabei in Streit gerieten und zu erbitterten Feinden wurden. Ich war tief betroffen und schickte sogleich eine Mail an Jonas. Darin schlug ich ihm vor, einen Zeugen beizuziehen, der im Streitfall entscheiden sollte, wer unsere Wette gewonnen hat. Jonas war einverstanden und empfahl einen Juristen aus der Familie seiner Ex-Frau. Ich kannte den Mann nicht, hatte aber immerhin noch genügend Vertrauen in Jonas, dass ich mir nichts Böses dabei dachte und zustimmte. Wir übermittelten diesem Juristen, einem gewissen Dr. Glotz, unsere Prognosen für das Jahr 2029 und den genauen Wortlaut der Wette.
Ein halbes Jahr später bekam ich den Brief eines mir nicht bekannten Anwalts aus München, in dem dieser mir erklärte, ich hätte eine Wette gewonnen. Er wolle mir eine Prämie von hundert Euro überweisen, wenn ich ihm im Gegenzug einen Vertrag unterzeichne, in dem ich auf sämtliche Forderungen im Zusammenhang mit der Wette, insbesondere auf das Urheberrecht, verzichte. Sofort rief ich Jonas an und verlangte eine Erklärung. Doch dieser zeigte sich ahnungslos.
Kaum ein Jahr später las ich in der Süddeutschen von einem Start-Up, das eine neue Wette-App höchst erfolgreich auf den Markt gebracht hatte. Dabei handelte es sich um ein Spiel, bei dem der Nutzer künftige Entwicklungen aus den Bereichen Politik, Wirtschaft und Gesellschaft prognostizieren und, wenn er richtig lag, sogenannte »Betcoins« gewinnen konnte. Ich war nicht überrascht, dass dieses Start-Up wenig später von Google aufgekauft wurde. Damit konnte man im Silicon Valley nicht nur das Verhalten der Menschen, sondern auch deren Erwartungen voraussehen. Der Kommerzialisierte Erwartungsüberschuss war geboren.
Jetzt, am letzten Tag im Jahr 2029, sitze ich in meinem Zimmer an meinem Schreibtisch und schaue aus dem Fenster. Draußen schneit es wie verrückt. Ich habe kein schlechtes Leben. Wir haben genug zu essen und zu trinken, genug zu lesen und zu reden, es gibt einen Turnsaal, ein Musikzimmer, ein kleines Kino. Es ist warm. Wenn ich in der Früh aufwache, schreibe ich auf, was ich geträumt habe. Es gibt im Lager eine Schreibgruppe, an der ich teilnehme. Da lesen wir uns gegenseitig unsere neuen Texte vor. Mich stört es kaum noch, dass alles aufgezeichnet wird. Die Überwachungsbehörde kennt uns durch und durch, lässt uns aber in Ruhe leben und arbeiten. Und ich lande immer wieder bei meiner Frage: Ist dieses Leben echt?
Ich rechne nicht damit, dass ich Wien oder Nürnberg noch einmal sehen werde. Jonas wird wahrscheinlich denken, ich sei untergetaucht, um den Behörden zu entkommen. Außerhalb des Lagers weiß niemand, dass ich hier bin. Meine Gedanken sind frei, aber frei bewegen kann ich mich nicht. Wenn ich ehrlich bin, muss ich zugeben, dass ich an der Entwicklung des Kommerzialisierten Erwartungsüberschusses nicht unbeteiligt war. Wer weiß? Hätte ich damals meinem Freund Jonas diese dumme Wette nicht vorgeschlagen, säße ich jetzt vielleicht nicht auf Island fest.
ENDE
Lao-tse
ist intelligent
sich selbst durchschauen
ist weise
den anderen überwältigen
ist mächtig
sich selbst bewältigen
ist stark
wer genügsam ist
ist reich
wer das versteht und dauernd lebt
ist willensstark
wer darauf baut
wird überleben
und nimmt der Tod das Leben fort
leben da wie dort
sein Geist und seine Seele
(Kapitel 33)
Freitag, 24. April 2020
Heilige Wirtschaftswissenschaft
Kants letzte Worte
Was sollen wir hoffen?
Was sollen wir wissen?
Was können wir wissen?
Was wissen wir?
Vom Geld
Das Stieropfer der Antike war ein Substitut für das Menschenopfer.
(Christina von Braun: Der Preis des Geldes - eine Kulturgeschichte, S. 439)
Ergänzung:
Das Geld war und ist ein Substitut für Gott.
Das Prinzip Zuversicht
Ich glaube, wir sollten das Böse
ich glaube an die Zuversicht
Donnerstag, 23. April 2020
Mittwoch, 22. April 2020
Berufung
Über die Liebe
Wenn ein Käfer einen Grashalm liebt,
dann sagen wir: jö schau, ein Käfer
Wenn ein Vogel seinen Platz am Dach liebt,
dann sagen wir: jö schau, ein Vogel
Wenn ein Hund an der Leine zerrt,
dann sagen wir: jö schau, ein Hund
Wenn ein roter Mazda mit siebzig über die Kreuzung rast,
dann sagen wir: jö schau, so eine Sau
Und wenn ein trauriger Löwe seine Schnauze am Gitter reibt,
dann sagen wir: jö schau, ein Löwe
Sonntag, 19. April 2020
Anton und Berta
Berta ist redselig, erzählt den anderen Kirchgängern von den neuesten Entwicklungen. Anton hält sich in ihrem Schatten auf. Er beantwortet die Fragen anderer für gewöhnlich knapp. Ein Sitznachbar erkundigt sich nach seinen Eltern. Anton will aus Bertas Schatten treten und erzählt von seiner alten Mutter, die weit weg lebt und ihn dennoch nervt. Diese Geschichte will ehrlich sein, klingt aber unschön. Antons Nachbar ist unangenehm berührt. Im Gottesdienst ist eine heile Welt gefragt, denkt Anton. Er hätte auch ein anderes Bild von seiner Mutter zeichnen können.
Bertas Gesprächspartner strahlt, als er erfährt, dass sie und Anton ein Haus kaufen wollen. Er finde das toll, lässt sich Fotos zeigen, ob man das Handy drehen könne?, nein, es sei ein Screenshot, die Scheune sei denkmalgeschützt und müsse restauriert werden, sehr interessant, was habt ihr mit der Scheune vor?
Anton würde das alles nicht mit Bertas Freude erzählen. Sie sind noch nicht lange ein Paar und in manchen Dingen grundverschieden. Zudem hat Anton kaum Erfahrung mit Partnerschaft und Paarbeziehung. Für ihn ist vieles von dem, was er mit Berta erlebt, völlig neu. Wer bestimmt, was geschieht? Wer passt sich an? Wer steht wann am Rand und beobachtet das Geschehen?
Um klar denken zu können, würde Anton die Stille und das Alleinsein brauchen. Vielleicht würde er dann denken, dass er sich aus freien Stücken für die Beziehung mit Berta entschieden hat. Dass er sich an diese Entscheidung gebunden fühlt. Dass er Konflikte aushalten können muss. Dass Widerstand gegen die Gegebenheiten mit Kosten verbunden ist. Dass er vor allem folgende Frage beantworten muss: Was ist das Ziel meines Widerstands?
Der Kelch mit Christi Blut wird Anton gereicht. Er versteht die Worte nicht, die dabei gemurmelt werden. Muss er etwas sagen? Er tunkt sein Brotstück ein und legt es sich auf die Zunge. Den Kelch nimmt er in seine Hände, bietet ihn Berta an. Sie flüstert ihm zu, was er zu sagen hat. Anton fühlt sich fremd und unpassend. Warum ist er hier? Wegen Gott? Wegen Jesus? Wegen Berta?
Anton will sich anpassen, unterordnen und fühlt sich unwohl. Es steht die Außenwirkung für sie beide als Paar auf dem Spiel. Wenn Berta ihn jetzt fragen könnte, was brauchst du?, er wüsste keine Antwort. Im Rahmen eines Gottesdienstes geht es nicht um die eigenen Bedürfnisse, oder doch? Wenn sie ihn fragen könnte, bekommst du, was du brauchst?, würde er antworten: nein.
Anton und Berta gehen nebeneinander zum Auto, um nach Hause zu fahren. Sie haben Wein getrunken, doch der Weg ist nicht weit. Beide spüren die angespannte Atmosphäre. Später liegen sie im Bett, jeder auf seiner Seite.
Berta will reden. Sie fragt: »Und? Wie war der Abend für dich?«
»Na ja, ich fühle mich in Gruppen nicht unbedingt wohl.«
Berta wartet, ob noch etwas nachkommt.
»Magst du darüber reden?«
»Ich weiß nicht. Manche Dinge sind mir fremd. In der Gruppe herrscht Zwang. Ich fühle mich gefangen.«
»Wärest du lieber zu Hause geblieben?«
»Nein. Das passt schon. Ich wollte da mit.«
Berta seufzt, dreht sich auf die Seite und löscht das Licht. Es ist wohl besser, wenn sie ihn vorläufig in Ruhe lässt. Andernfalls fühlt er sich bedrängt.
Anton kann nicht klar denken. Sein Kopf schwirrt. Tausend Bilder jagen durch sein Gehirn. Der Vater taucht auf, der sich über das scheinheilige Getue frommer Christen immer lustig gemacht hat.
»Ich frage mich, warum ich zum Rebell geworden bin.«
Berta dreht sich auf seine Seite. Er soll das Gefühl haben, dass sie ihm zuhört.
»Ich war mein Leben lang Außenseiter, Sonderling, Exzentriker – alles, weil ich irgendwie wahrgenommen werden wollte. Für meinen Vater war ich nie gut genug.«
Berta sagt nichts dazu. Sie glaubt, ihren Anton neben sich zu haben, den authentischen Anton, der aus seinem Innersten schöpft, um das Eigentliche auszusprechen.
»Mein Vater sah in mir den Störenfried. Mir galt die Normalität des Mainstream als Ursache für die weltweiten Missstände. Ich frage mich: Wann ist Widerstand gerechtfertigt?«
»Wenn Aussicht auf Verbesserung besteht?«, schlägt Berta vor.
»Ja. Oder wenn der Leidensdruck zu groß ist.«
Anton ist noch nicht zufrieden. Welche Verbesserung strebt er an? Was ist sein Ziel? Wo Unrecht zu Recht wird, wird Widerstand zur Pflicht, sagt eine Stimme in seinem Kopf. Es geht um die Wahlfreiheit, denkt er.
»Weißt du, es ist so: Fühle ich mich ungenügend, will ich flüchten und allein sein. Fühle ich mich schön, stark und gut, dann will ich bleiben und den Erfolg genießen.«
»Das verstehe ich«, sagt Berta. Und legt ihm ihre Hand auf die Brust.
Ich wäre frei, denkt Anton, wenn ich mich je nach Situation zwischen Anpassung und Widerstand entscheiden könnte. Frei entscheiden. Und nicht unbewusst, nach einem eingelernten Automatismus.
»Wollen wir noch beten?«, fragt Berta.
Für gewöhnlich ist es Berta, die mit dem abendlichen Gebet beginnt, für gewöhnlich beginnt sie mit den Worten: Herr, ich danke Dir für diesen Tag …
Aber heute ist es Anton, der das Wort ergreift: »Lieber Gott, ich danke dir dafür, dass du mich und Berta zusammengeführt hast. Auch wenn ich die Liebe nicht immer spüre, so weiß ich doch, dass ich geliebt werde. Amen.«
»Amen«, sagt Berta und küsst ihren Anton auf den Mund.
Anton sitzt vor dem gedeckten Tisch. Ihm ist nicht zum Lachen. Er lebt im Luxus, aber Freude empfindet er nicht. Lieber würde er im Bett liegen, schlafen und alles vergessen. Woher kommt diese schlechte Stimmung? Wenn Berta ihn jetzt fragen würde, bekommst du, was du brauchst?, müsste er antworten: nein.
Aber Berta ist nicht bei ihm. Sie ist mit ihrer Familie beschäftigt, mit den Erwartungen ihrer Mutter, ihrer krebskranken Schwester, ihrer Kinder. Berta ist ein Energiebündel, ein Tat-Mensch, eine Löwenmama. Aber auch sie hat ihre Bedürfnisse.
Anton will, dass es seiner Liebsten gut geht. Wenn er gut gelaunt wäre, würde das helfen. Zufriedenheit würde helfen, innere Zufriedenheit. Ruhe und Ausgeglichenheit. Berta spürt sofort, wenn mit Anton etwas nicht stimmt. Anton würde sein Problem gerne aus der Welt schaffen. Doch was ist sein Problem und woher kommt es?
Er nimmt das Besteck in die Hand, schneidet ins Fleisch, führt die Gabel zum Mund und kaut. Eigentlich hat er keinen Hunger. Er ist müde. Die letzten Tage waren sehr anstrengend. Bertas Familie saß um den Tisch. Es wurden viele Gespräche geführt. Aber alle kamen irgendwie zu kurz. Unerfüllte Erwartungen blieben zurück.
Draußen scheint die Sonne, es bläst ein lauer Wind. Alle sind ausgeflogen, haben wieder viel zu tun, müssen verdauen. Ich bin für meine Zufriedenheit selbst verantwortlich, denkt Anton. Wenn ich schlafen will, kann ich das jederzeit tun. Er hat in der Nacht ausreichend geschlafen, hat Kaffee getrunken, geduscht, mit seiner Mutter telefoniert. Sie klang traurig. Auch ihre Erwartungen wurden nicht erfüllt.
»Frohe Ostern!«, hat man sich gegenseitig gewünscht. Auch »Christus ist auferstanden!«, war einige Male zu hören. Wie kommt es, dass Anton nicht lachen kann? Was macht der auferstandene Christus mit ihm? Was macht Ostern mit den Menschen? Osterhasen und Ostereier erhöhen den Blutzuckerspiegel. Schokolade macht gute Laune. Ein mit Süßigkeiten gedeckter Tisch sieht lustig aus.
Gott ist Fleisch geworden und hat dieses Fleisch geopfert. Die Menschen beißen dem Osterhasen den Kopf ab. Anton neigt zu Zynismus. Ist das ein Zeichen von Humor? Er sitzt vor seinem halbleeren Teller, nimmt einen Schluck aus dem Wasserglas und hält inne. Wenn ich gut gelaunt wäre, könnte ich für die gute Laune meiner Liebsten sorgen. Jesus würde vielleicht sagen, wirf deine Sorgen auf den Herrn! Anton weiß, dass er seinen Glauben braucht - wie ein Rückgrat, das ihm erlaubt, aufrecht zu gehen.
Dienstag, 24. März 2020
Stoßgebet
Lieber Gott, liebe Schutzengel, liebe Ahnen,
bitte helft mit, dass jeder Mensch
seine Lehren aus der aktuellen Krise ziehe
und sein Verhalten entsprechend ändere,
damit es künftig auf dieser Welt
gerechter und friedlicher zugehe;
wir wünschen uns eine solidarische Weltordnung
und keine egomanische Rechthaberei;
die Menschen mögen erkennen,
dass das ständige Streben nach Mehr
von der Angst getrieben ist,
nicht genug zu bekommen;
die Menschen mögen erkennen,
dass das Hamstern von Derivaten
ungleich problematischer ist
als das Hamstern von Klopapier.
Lieber Gott, liebe Schutzengel, liebe Ahnen,
bitte lasst Hirn niederprasseln!
Danke & Amen