Samstag, 5. Februar 2022

Punkt

Ich beginne mit einem Punkt links unten. Einen zweiten Punkt platziere ich links oben, verbinde die beiden einmal durch eine Gerade und ein zweites Mal durch einen Bogen, sodass ein „D“ entsteht. Ein „D“? Wofür steht dieses „D“? Demut, Distanz, Disziplin, Demokratie, Daseinsberechtigung sind die ersten fünf mit „D“ beginnenden Hauptwörter, die mir einfallen. 
Ich drehe das Blatt um neunzig Grad im Uhrzeigersinn und sehe die Umrisse eines menschlichen Gesichts, das einen Helm auf dem Kopf trägt. Noch fehlen Augen, Nase, Mund und Ohren, aber ich kann sehen, dass das liegende „D“ zu einem Soldaten geworden ist. Oder muss ich von einer Soldatin sprechen? Ist sie eine Domina? Greift sie an oder verteidigt sie? Ich kann es nicht sagen, bin mir aber sicher, dass das Wort „Präventivschlag“ einem männliches Gehirn entsprungen ist.
Der Helm schützt das Soldatengehirn nicht, damit der Soldat denken kann. Der Helm schützt das Soldatengehirn, damit der Soldat effizient töten kann. Denkende Soldaten tragen keine Helme. Denkende Soldaten tragen Protesen und Tapferkeitsmedaillen. Die Medaille lässt den Soldaten denken, ich bin ein Überlebender. Das Gesicht auf meinem Blatt, bestehend aus zwei Punkten und zwei Linien, einer geraden und einer gebogenen, könnte ebenso gut die Umrisse einer Tapferkeitsmedaille markieren. Was macht den Unterschied?
Der Soldat hat einen Geburtstag und einen Geburtsort. Die Tapferkeitsmedaille trägt das Datum und den Ortsnamen der Schlacht. Die Schlacht findet an der Front statt. Ich platziere sogleich einen Strich auf meinem Blatt, dort, wo der Soldat seine Nase hätte. Links und rechts der Nase, wo der Soldat seine Augen hätte, befinden sich die feindlichen Armeen. Und unterhalb der Nase, wo der Soldat seinen Mund hätte, befindet sich die Weltöffentlichkeit. Die Weltöffentlichkeit sagt, haltet ein, legt die Waffen nieder, nie wieder Krieg! Doch die Armeen können nicht hören. Sie sehen nur den Feind auf der anderen Seite der Frontlinie.
Ich betrachte meine Zeichnung und erkenne, dass ich weder das Gesicht eines Soldaten noch die Umrisse einer Tapferkeitsmedaille vor mir habe, sondern - eine Maske. Es ist die Maske der Ausdruckslosigkeit. Diese Maske versteckt jede Emotion. Sie ist unmenschlich. Künstliche Intelligenz ist unmenschlich, weil sie ohne jede Emotion ist. Ich als Mensch denke so, wie meine Gefühle wollen, dass ich denke. Mein Denken wird von meinen Gefühlen gelenkt. Auch Denken ist ein Wort, das mit „D“ beginnt.
Ich habe mit einem Punkt links unten begonnen, der nach links oben gewandert ist. Ich habe dadurch eine Maske gefunden und will noch weiterschürfen: Hinter welcher Maske verstecke ich mich? Ich verstecke mich hinter der Maske desjenigen, der so tut, als könne er mit ein paar Strichen den Weg zum Weltfrieden skizzieren. Der so tut, als läge das Schicksal der Menschheit in den Händen einer Gilde versponnener Künstlerinnen und aufgeblasener Künstler. Der so tut, als läge das Glück in der Einfachheit. Der nur so tut, als täte er etwas. Doch die Wahrheit ist: Auch dieser Text endet nur mit einem Punkt.