Dienstag, 9. Januar 2024

Das Mädchen am Fenster

Das Mädchen hält den Brief ihres Liebsten in Händen und weint. Von draußen blendet die Sonne, die Fensterflügel sind weit geöffnet, auf dem Fensterbrett steht eine Tasse Kaffee. Das Mädchen hatte die Sitzbank ans offene Fenster gerückt und das Kuvert aufgerissen. Die wenigen Sätze ihres Liebsten las sie zweimal, ehe sie die Wucht der Enttäuschung spürte. Ihr Liebster kann nicht kommen. Er sitzt fest. Der Krieg sorgt dafür, dass sie getrennt bleiben.
Dieser erbärmliche, sinnlose, grausame Krieg hat ihr schon die beiden Brüder genommen, die Mutter ist aus Kummer gestorben, der Vater lebt zwar, bekommt aber von alldem nichts mehr mit. Die junge Frau pflegt, füttert und wäscht ihn. Sie ist an den Vater gekettet, kann ihn keinen Tag allein lassen. Bis eben hatte sie gehofft, dass ihr Liebster bald heimkäme. Nun ist diese Hoffnung zerplatzt – und die Sonne blendet.
Warum führen Menschen Krieg? Die junge Frau stellt sich diese Frage nicht zum ersten Mal. Sie ist zur Schule gegangen, hatte dort eine engagierte Lehrerin für Geschichte. Von ihr hat sie einiges über die Philosophen gehört, hat erfahren, dass ein alter Grieche einst meinte, Krieg sei der Vater aller Dinge. Die junge Frau zittert vor Wut. Die Luft vibriert in der Hitze. Die Tränen bahnen sich ihren Weg über Wangen, Kinn und Hals.
Was würde Gott sagen? Die junge Frau erinnert sich an die Geschichte von Hiob. Dieser war ein gottesfürchtiger Mann, dem der Teufel alles genommen hat. Erst im größten Leid hat Hiob Gott geschaut – und alles wurde gut. Die junge Frau weiß, was ihr Hiobs Geschichte sagen will. Sie darf sich bei Gott nicht beklagen. Im Gegenteil. Sie muss dankbar sein. Sie muss dankbar sein für die Tränen, die sie weinen darf, für ihren Liebsten, der noch lebt, für ihre tapferen Brüder, die nicht mehr leiden, für ihre leidenschaftliche Mutter, die nicht mehr klagt, für den Vater, der ihr eine Aufgabe gibt, für die schonungslose Sonne.
Die junge Frau nimmt einen Schluck Kaffee. Sie liest den Brief ihres Liebsten ein drittes Mal. Erst jetzt bemerkt sie, dass er nicht unterschrieben hat. Sie hat nicht den geringsten Zweifel daran, dass der Brief von ihm stammt. Das ist seine Handschrift. Aber warum fehlt jede Signatur? Sie kann nicht glauben, dass er zu unterschreiben vergessen hat, sie glaubt, er hat seinen Namen absichtlich weggelassen, aber was will er ihr damit sagen?
Der erbärmliche, sinnlose, grausame Krieg verschwindet aus ihrem Bewusstsein. Sie klammert sich an das Rätsel der fehlenden Unterschrift. Und so wird für die junge Frau aus einem unscheinbaren Detail jene entscheidende Frage, um die sich alles andere zu drehen beginnt.

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