Freitag, 21. Dezember 2012

Weihnachtsgeschichte 2012

Es war am Weihnachtstag im Jahre Schnee, als ich, von Gott und der Welt verlassen, durch einen finsteren Wald stapfte, um mein gesundes Selbst zu finden. Ich schaute unter jeden Ast, der am Wegesrand lag, hinter jeden Ameisenhaufen und in alle Himmelsrichtungen, aber mein gesundes Selbst fand ich nicht. Der Weihnachtsabend rückte näher, der Wald wurde immer finsterer und dichter und mein gesundes Selbst blieb hoffnungslos verschollen.

Als ich die Suche abbrechen wollte, um mich endgültig in mein Schneckenhaus zurückzuziehen, begegnete ich tief im Herzen meinem wunden Punkt. Der wunde Punkt sah mich an und sagte: »Du liebst mich nicht.« Ich aber fragte ihn: »Wer bist denn du?« »Ich bin dein wunder Punkt«, sagte der wunde Punkt. »Und was willst du von mir?« fragte ich. »Ich will dir bei deiner Suche helfen.« »Du willst mir helfen, mein gesundes Selbst zu finden?« fragte ich ungläubig. »Ja«, sagte der wunde Punkt. »Und wie willst du mir helfen?« fragte ich ihn. Der wunde Punkt aber sah mich nur an und sagte: »Du liebst mich nicht.« Da begann ich über die Beziehung zu meinem wunden Punkt nachzudenken. Er hatte recht. Ich liebte ihn nicht. Aber was sollte ich tun? Ich konnte mich doch nicht zwingen, ihn zu lieben!

Als dann der Weihnachtsabend anbrach, saß ich mit meinem wunden Punkt zu Hause, von Gott und der Welt verlassen, und dachte gar nicht mehr an mein gesundes Selbst. Da lächelte der wunde Punkt und sagte: »Heute ist Weihnachten. Ich will dir ein Geschenk machen.« Ich schaute ihn ungläubig an. »Was willst du mir denn schenken?« fragte ich ihn. »Ich schenke dir ...«, begann der wunde Punkt, »ich schenke dir einen Spiegel, in dem du gleichzeitig mich und dein gesundes Selbst sehen kannst.« Da wurde ich hellhörig. Ich ließ mir den Spiegel zeigen, doch konnte ich darin nur den wunden Punkt, nicht aber mein gesundes Selbst erkennen. »Da ist kein gesundes Selbst!« rief ich, »da bist nur du, der wunde Punkt.« »Aber sieh doch genau hin«, sagte der wunde Punkt und ich sah genauer hin. Ich schaute mir den wunden Punkt ganz genau an, lange sah ich ihn an, und ich sah, dass er leicht zitterte. »Du zitterst ja«, sagte ich. »Richtig«, sagte der wunde Punkt, »ich zittere. Ich zittere aus Angst vor dir, weil du mich nicht liebst.«

Da tat mir der wunde Punkt plötzlich leid und ich wollte mich bei ihm entschuldigen. Doch ehe ich die Entschuldigung aussprechen konnte, glitt mir der Spiegel aus der Hand, fiel zu Boden und zerbrauch. »Um Gottes Willen« rief ich aus, »das wollte ich nicht!« Der wunde Punkt lächelte wieder, sagte aber nichts mehr. Den Rest des Abends saß ich ohne Spiegel und ohne gesundes Selbst da, von Gott und der Welt verlassen, aber ich hatte einen neuen Freund.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen