Sonntag, 19. April 2020

Anton und Berta

Anton und Berta gehen Hand in Hand in den Abendmahl-Gottesdienst. Berta hängt dem Glauben stärker an als Anton. Aber Anton glaubt auch. Er glaubt und zweifelt, müht sich ab, sucht nach Echtheit und Klarheit. Für Berta ist das Glauben einfacher. Ihr Weltbild ist ausgereift, sie steht mit ihren Kindern fest im Leben, hat einen anstrengenden Beruf und schöpft Kraft aus ihrem Glauben.
Berta ist redselig, erzählt den anderen Kirchgängern von den neuesten Entwicklungen. Anton hält sich in ihrem Schatten auf. Er beantwortet die Fragen anderer für gewöhnlich knapp. Ein Sitznachbar erkundigt sich nach seinen Eltern. Anton will aus Bertas Schatten treten und erzählt von seiner alten Mutter, die weit weg lebt und ihn dennoch nervt. Diese Geschichte will ehrlich sein, klingt aber unschön. Antons Nachbar ist unangenehm berührt. Im Gottesdienst ist eine heile Welt gefragt, denkt Anton. Er hätte auch ein anderes Bild von seiner Mutter zeichnen können.
Bertas Gesprächspartner strahlt, als er erfährt, dass sie und Anton ein Haus kaufen wollen. Er finde das toll, lässt sich Fotos zeigen, ob man das Handy drehen könne?, nein, es sei ein Screenshot, die Scheune sei denkmalgeschützt und müsse restauriert werden, sehr interessant, was habt ihr mit der Scheune vor?
Anton würde das alles nicht mit Bertas Freude erzählen. Sie sind noch nicht lange ein Paar und in manchen Dingen grundverschieden. Zudem hat Anton kaum Erfahrung mit Partnerschaft und Paarbeziehung. Für ihn ist vieles von dem, was er mit Berta erlebt, völlig neu. Wer bestimmt, was geschieht? Wer passt sich an? Wer steht wann am Rand und beobachtet das Geschehen?
Um klar denken zu können, würde Anton die Stille und das Alleinsein brauchen. Vielleicht würde er dann denken, dass er sich aus freien Stücken für die Beziehung mit Berta entschieden hat. Dass er sich an diese Entscheidung gebunden fühlt. Dass er Konflikte aushalten können muss. Dass Widerstand gegen die Gegebenheiten mit Kosten verbunden ist. Dass er vor allem folgende Frage beantworten muss: Was ist das Ziel meines Widerstands?
Der Kelch mit Christi Blut wird Anton gereicht. Er versteht die Worte nicht, die dabei gemurmelt werden. Muss er etwas sagen? Er tunkt sein Brotstück ein und legt es sich auf die Zunge. Den Kelch nimmt er in seine Hände, bietet ihn Berta an. Sie flüstert ihm zu, was er zu sagen hat. Anton fühlt sich fremd und unpassend. Warum ist er hier? Wegen Gott? Wegen Jesus? Wegen Berta?
Anton will sich anpassen, unterordnen und fühlt sich unwohl. Es steht die Außenwirkung für sie beide als Paar auf dem Spiel. Wenn Berta ihn jetzt fragen könnte, was brauchst du?, er wüsste keine Antwort. Im Rahmen eines Gottesdienstes geht es nicht um die eigenen Bedürfnisse, oder doch? Wenn sie ihn fragen könnte, bekommst du, was du brauchst?, würde er antworten: nein.

Anton und Berta gehen nebeneinander zum Auto, um nach Hause zu fahren. Sie haben Wein getrunken, doch der Weg ist nicht weit. Beide spüren die angespannte Atmosphäre. Später liegen sie im Bett, jeder auf seiner Seite.
Berta will reden. Sie fragt: »Und? Wie war der Abend für dich?«
»Na ja, ich fühle mich in Gruppen nicht unbedingt wohl.«
Berta wartet, ob noch etwas nachkommt.
»Magst du darüber reden?«
»Ich weiß nicht. Manche Dinge sind mir fremd. In der Gruppe herrscht Zwang. Ich fühle mich gefangen.«
»Wärest du lieber zu Hause geblieben?«
»Nein. Das passt schon. Ich wollte da mit.«
Berta seufzt, dreht sich auf die Seite und löscht das Licht. Es ist wohl besser, wenn sie ihn vorläufig in Ruhe lässt. Andernfalls fühlt er sich bedrängt.
Anton kann nicht klar denken. Sein Kopf schwirrt. Tausend Bilder jagen durch sein Gehirn. Der Vater taucht auf, der sich über das scheinheilige Getue frommer Christen immer lustig gemacht hat.
»Ich frage mich, warum ich zum Rebell geworden bin.«
Berta dreht sich auf seine Seite. Er soll das Gefühl haben, dass sie ihm zuhört.
»Ich war mein Leben lang Außenseiter, Sonderling, Exzentriker – alles, weil ich irgendwie wahrgenommen werden wollte. Für meinen Vater war ich nie gut genug.«
Berta sagt nichts dazu. Sie glaubt, ihren Anton neben sich zu haben, den authentischen Anton, der aus seinem Innersten schöpft, um das Eigentliche auszusprechen.
»Mein Vater sah in mir den Störenfried. Mir galt die Normalität des Mainstream als Ursache für die weltweiten Missstände. Ich frage mich: Wann ist Widerstand gerechtfertigt?«
»Wenn Aussicht auf Verbesserung besteht?«, schlägt Berta vor.
»Ja. Oder wenn der Leidensdruck zu groß ist.«
Anton ist noch nicht zufrieden. Welche Verbesserung strebt er an? Was ist sein Ziel? Wo Unrecht zu Recht wird, wird Widerstand zur Pflicht, sagt eine Stimme in seinem Kopf. Es geht um die Wahlfreiheit, denkt er.
»Weißt du, es ist so: Fühle ich mich ungenügend, will ich flüchten und allein sein. Fühle ich mich schön, stark und gut, dann will ich bleiben und den Erfolg genießen.«
»Das verstehe ich«, sagt Berta. Und legt ihm ihre Hand auf die Brust.
Ich wäre frei, denkt Anton, wenn ich mich je nach Situation zwischen Anpassung und Widerstand entscheiden könnte. Frei entscheiden. Und nicht unbewusst, nach einem eingelernten Automatismus.
»Wollen wir noch beten?«, fragt Berta.
Für gewöhnlich ist es Berta, die mit dem abendlichen Gebet beginnt, für gewöhnlich beginnt sie mit den Worten: Herr, ich danke Dir für diesen Tag …
Aber heute ist es Anton, der das Wort ergreift: »Lieber Gott, ich danke dir dafür, dass du mich und Berta zusammengeführt hast. Auch wenn ich die Liebe nicht immer spüre, so weiß ich doch, dass ich geliebt werde. Amen.«
»Amen«, sagt Berta und küsst ihren Anton auf den Mund.

Anton sitzt vor dem gedeckten Tisch. Ihm ist nicht zum Lachen. Er lebt im Luxus, aber Freude empfindet er nicht. Lieber würde er im Bett liegen, schlafen und alles vergessen. Woher kommt diese schlechte Stimmung? Wenn Berta ihn jetzt fragen würde, bekommst du, was du brauchst?, müsste er antworten: nein.
Aber Berta ist nicht bei ihm. Sie ist mit ihrer Familie beschäftigt, mit den Erwartungen ihrer Mutter, ihrer krebskranken Schwester, ihrer Kinder. Berta ist ein Energiebündel, ein Tat-Mensch, eine Löwenmama. Aber auch sie hat ihre Bedürfnisse.
Anton will, dass es seiner Liebsten gut geht. Wenn er gut gelaunt wäre, würde das helfen. Zufriedenheit würde helfen, innere Zufriedenheit. Ruhe und Ausgeglichenheit. Berta spürt sofort, wenn mit Anton etwas nicht stimmt. Anton würde sein Problem gerne aus der Welt schaffen. Doch was ist sein Problem und woher kommt es?
Er nimmt das Besteck in die Hand, schneidet ins Fleisch, führt die Gabel zum Mund und kaut. Eigentlich hat er keinen Hunger. Er ist müde. Die letzten Tage waren sehr anstrengend. Bertas Familie saß um den Tisch. Es wurden viele Gespräche geführt. Aber alle kamen irgendwie zu kurz. Unerfüllte Erwartungen blieben zurück.
Draußen scheint die Sonne, es bläst ein lauer Wind. Alle sind ausgeflogen, haben wieder viel zu tun, müssen verdauen. Ich bin für meine Zufriedenheit selbst verantwortlich, denkt Anton. Wenn ich schlafen will, kann ich das jederzeit tun. Er hat in der Nacht ausreichend geschlafen, hat Kaffee getrunken, geduscht, mit seiner Mutter telefoniert. Sie klang traurig. Auch ihre Erwartungen wurden nicht erfüllt.
»Frohe Ostern!«, hat man sich gegenseitig gewünscht. Auch »Christus ist auferstanden!«, war einige Male zu hören. Wie kommt es, dass Anton nicht lachen kann? Was macht der auferstandene Christus mit ihm? Was macht Ostern mit den Menschen? Osterhasen und Ostereier erhöhen den Blutzuckerspiegel. Schokolade macht gute Laune. Ein mit Süßigkeiten gedeckter Tisch sieht lustig aus.
Gott ist Fleisch geworden und hat dieses Fleisch geopfert. Die Menschen beißen dem Osterhasen den Kopf ab. Anton neigt zu Zynismus. Ist das ein Zeichen von Humor? Er sitzt vor seinem halbleeren Teller, nimmt einen Schluck aus dem Wasserglas und hält inne. Wenn ich gut gelaunt wäre, könnte ich für die gute Laune meiner Liebsten sorgen. Jesus würde vielleicht sagen, wirf deine Sorgen auf den Herrn! Anton weiß, dass er seinen Glauben braucht - wie ein Rückgrat, das ihm erlaubt, aufrecht zu gehen.

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