Samstag, 25. April 2020

Eine dystopische Erzählung

Vor etwa zehn Jahren lebte ich in Nürnberg und pflegte eine Schreibpartnerschaft mit meinem Freund Jonas aus Wien. Er war seit kurzem in Pension und frönte seiner Leidenschaft, dem Schriftstellerdasein. Einmal besuchte ich ihn in der großen Stadt des Grantelns und Zauderns und konnte mit eigenen Augen sehen, wie zufrieden er mit sich und seinem neuen Leben war. Jonas erzählte, dass er jeden Morgen in aller Früh aus dem Bett steigt, um sofort aufzuschreiben, was er geträumt hat. Dabei trinkt er in aller Ruhe, wie er sich ausdrückte, seinen Tee und genießt den Blick aus dem Küchenfenster.
Er lebte am Waldrand in einer Wohnung der Gemeinde Wien, hatte Natur um sich, nur wenige Schritte vom Haus entfernt. Er ging jeden Tag laufen, absolvierte Routen über viele Kilometer. Nach dem Duschen und einem Frühstück schrieb er weiter, fertigte literarische Miniaturen an, wie er sie nannte, wollte den spielerischen Umgang mit Sprache, Text und Form üben.
Jeden Sonntag bekam ich eine Mail von ihm - mit Anhang. Dort fand ich einen seiner neuen Texte, den ich gewissenhaft las und kommentierte. Es tue ihm gut, einen Abgabetermin zu haben, sagte er einmal, denn das halte ihn im Fluss. Damit meinte er den Schreibfluss, den heiligsten Zustand im Leben eines Autors.

Eines Sonntags im November bekam ich keinen literarischen Text von meinem Freund. Er schickte vielmehr das Ergebnis einer Recherche über die damals neuen E-Scooter. Ich erfuhr von drei konkurrierenden Unternehmen, zwei US-amerikanischen und einem deutschen, die sich in Wien angesiedelt hatten, um den Markt zu erobern. Die Roller konnte nur nutzen, wer im Besitz einer Kreditkarte und eines Smartphones war. Jonas schien darin kein Problem zu sehen. Er wusste nicht, dass ich zu jener Zeit ein aufsehenerregendes Buch las, das sich mit dem Überwachungskapitalismus auseinandersetzte. Auf die Reportage meines Wiener Schreibfreundes reagierte ich mit heftigen Einwänden. Ob er die Gefahren nicht sehe? Es gehe nur vordergründig um Datenakkumulation, vielmehr drohe das Ende von Privatsphäre und der Beginn einer völlig neuen Ära von Ausbeutung und Sklaverei! Doch das rührte Jonas nicht. Verzicht sei für ihn kein Allheilmittel, erklärte er. Und wenn er sich sein Leben mit einer technischen Lösung verbessern könne, wolle er diese nutzen. Zu streiten erschien mir sinnlos. Deshalb schlug ich ihm eine Wette vor. Ich wettete darauf, dass ich den Zustand der Welt, in der wir zehn Jahre später leben würden, treffender beschreiben konnte als er, setzte den Betrag von hundert Euro – und war überrascht, dass Jonas, der vorsichtigste Mensch, den ich kannte, meine Herausforderung annahm.

Damals war ich davon überzeugt, dass die Entwicklung rund um die Künstliche Intelligenz die Freiheit des Einzelnen Schritt für Schritt demontieren würde. Ich dachte nicht an die Bewegungsfreiheit, wohl aber an die Gedankenfreiheit. Ich sah eine neue Klassengesellschaft entstehen. In ihr würde die große Masse der Menschen die Klasse der Schafe bilden, die abgestumpft und wahrnehmungsgestört dorthin läuft, wo die Herrschenden sie haben wollen. Die Herrscherklasse wäre ein elitärer Zirkel, eine Clique, die sämtliches Kapital der Welt an sich rafft, eine Art Donald-Duck-Club. Der Hauptgott dieser neuen Feudalherren hätte den Namen: »Mehr!« Die dritte Klasse bestünde aus den Künstlern und Intellektuellen. Diese Menschen wären gebildet, hinreichend versorgt, selbstbewusst, aber letztlich machtlos. Sie würden sich so gut vernetzt wie informiert fühlen, würden denken, sie haben Zugang zu allem, was sie für ihre Arbeit brauchen. Sie würden an Veränderbarkeit, Einfluss und Wirkung glauben, wichtig sein und Geschichte schreiben wollen. Dabei würden sie nicht merken, dass sie nur mit sich selbst beschäftigt sind und der Weltgesellschaft, bestehend aus Schafen, völlig egal.

Jonas in Wien sah das anders. Er wollte erkennen, dass es den Jungen, seinen Kindern, besser ging als ihm in seiner Adoleszenz. Er konnte zwar sentimental werden, wenn er registrierte, dass etwas unerwartet verschwand, was es lange gegeben hatte, oft länger als er denken konnte, für immer verschwand, weil ersetzt durch etwas Moderneres, Besseres, Leistungsstärkeres. Aber ich kannte ihn als einen Menschen, der sich letztlich anpasste und fügte. Und in der Tat, Jonas entwickelte sich für mich zum letzten Intellektuellen unter den Schafen, zum letzten, der unbehelligt in der Weltgesellschaft verbleiben durfte - während ich vor mehr als drei Jahren  aufgegriffen, nach Reykjavik geflogen und im Internierungslager für Kritische Intellektuelle untergebracht wurde, wo ich bis zum heutigen Tag festgehalten werde. Der Kontakt zu Jonas war damit durchschnitten. Ich weiß nicht einmal, ob er noch lebt.

Heute, am Tag, an dem ich auf all das zurückblicke, schreiben wir den 31. Dezember 2029. Wir haben im Lager nie Internet gehabt und alles, was hinausgeht oder hereinkommt, wird von den Überwachungsbeamten kontrolliert. Wir erhalten zwar Bücher und Zeitungen, können Radio und Fernsehen empfangen. Aber Telefone hat es für uns nie gegeben. Wir dürfen Briefe schreiben, aber sie werden von den Überwachungsbeamten gelesen. Wir dürfen in den Briefen nicht erwähnen, dass wir uns auf Island befinden. Wir wissen nicht, ob unsere Briefe zugestellt werden, denn wir bekommen nie eine Antwort. Und wir werden rund um die Uhr beobachtet. Sogar auf den Toiletten gibt es Überwachungskameras. Wir wissen zwar, was sich in der Welt außerhalb des Lagers abspielt, aber die Welt weiß von uns wahrscheinlich nichts.

Damals, vor etwa zehn Jahren, begannen Jonas und ich damit, Fragen zu sammeln, die man mit Ja oder Nein beantworten konnte. Zum Beispiel: »Wird es im Jahr 2029 in A/D (wir beschränkten unsere Prognosen auf Österreich und Deutschland) eine Regierung unter Beteiligung einer sozialdemokratischen Partei geben?« Oder: »Wird es im Jahr 2029 in A/D ein allgemeines, bedingungsloses Grundeinkommen geben?« Oder: »Wird man im Jahr 2029 in A/D noch mit Bargeld bezahlen können?« - Für unsere Wette waren jene Fragen interessant, die wir unterschiedlich beantworteten. Zum Schluss hatten wir zwei Zukunftsszenarien, eines von Jonas und eines von mir. Sie bildeten die Grundlage für unsere Wette.

Was uns zuerst auffiel: An manchen Sonntagen hatten wir keinen Zugang zum Internet, konnten also unsere Texte nicht pünktlich abliefern. Irgendwann bekam ich dann eine Mail von Jonas, in der er mich nach Wien einlud. Ich rief ihn an, wollte die Sache klären, aber er behauptete steif und fest, dass er mir keine solche Mail geschickt hatte. Das kam mir höchst seltsam vor. Als dann solche und ähnliche Dinge immer wieder passierten, verlor ich langsam mein Vertrauen zu Jonas. Auf die Idee, dass diese – um es vorsichtig zu formulieren – Ungereimtheiten irgendetwas mit der Wette zu tun haben könnten, kam ich lange nicht. Was Jonas zu diesen Dingen dachte, weiß ich nicht. Sein Verhalten wurde zunehmend merkwürdig. Irgendwann behauptete er, ich wolle ihn absichtlich verwirren, um schließlich behaupten zu können, er leide an Demenz. Ich hingegen hatte nie etwas von Demenz geschrieben, höchstens in einem meiner – literarischen! – Texte. Es war klar, dass er Dinge durcheinanderbrachte. Um mir eins auszuwischen, begann er, meine Texte auf vernichtende Art zu kritisieren. Mit den Texten an sich hatte das nichts mehr zu tun, das war klar. Er war beleidigt. Ich wurde wütend. Es war wie in einer Beziehung. Absurd. Irgendwann beschloss ich, nach Wien zu fahren. Unangekündigt. Ich wollte klären, was da los war. Ich weiß noch: Es war eine spontane Eingebung. Ich fuhr den Computer hoch, rief die Seite der Deutschen Bahn auf und ging, weil mir die Sache zu lange dauerte, Post holen. Ich staunte nicht schlecht, als ich ein Kuvert der Deutschen Bahn aus dem Fach holte. Darin war ein Code enthalten, der mir eine Ermäßigung in Aussicht stellte, wenn ich bis zu einem bestimmten Datum ein Zugticket kaufe. Konnte das Zufall sein? Ich bekam es mit der Angst zu tun.

Hier im Lager habe ich rasch verstanden, was damals gespielt wurde. Alle meine Kollegen haben ähnliche Dinge erlebt. Die Internetriesen im Silicon Valley hatten schon Ende der 2010er Jahre eine klare Vorstellung davon, wie die Weltgesellschaft organisiert sein müsse. Für uns sogenannte »Unberechenbare« kam nur die Rückführung ins analoge Zeitalter infrage. Angst habe ich jetzt keine mehr. Unser Leben ist nicht schlecht. Aber ich stelle mir zunehmend die Frage: Ist dieses Leben auch echt?

Ich fuhr damals nicht nach Wien. Und ich schrieb keine Mails mehr. Der Kontakt zu Jonas schlief ein. Ich vertiefte mich in die Lektüre belletristischer Literatur, las Romane, die in Wien spielten, von Peter Henisch und Michael Köhlmeier beispielsweise, und trauerte mit schwindender Intensität meiner Wiener Freundschaft nach. Irgendwann hatte ich die Wette mit Jonas so gut wie vergessen.
Dann kam ein Kuvert aus Wien. Jonas hatte einen Text ausgedruckt und bat mich um Kommentare. Der Text entpuppte sich als die Geschichte zweier Freunde, die eine Wette abschlossen, dabei in Streit gerieten und zu erbitterten Feinden wurden. Ich war tief betroffen und schickte sogleich eine Mail an Jonas. Darin schlug ich ihm vor, einen Zeugen beizuziehen, der im Streitfall entscheiden sollte, wer unsere Wette gewonnen hat. Jonas war einverstanden und empfahl einen Juristen aus der Familie seiner Ex-Frau. Ich kannte den Mann nicht, hatte aber immerhin noch genügend Vertrauen in Jonas, dass ich mir nichts Böses dabei dachte und zustimmte. Wir übermittelten diesem Juristen, einem gewissen Dr. Glotz, unsere Prognosen für das Jahr 2029 und den genauen Wortlaut der Wette.
Ein halbes Jahr später bekam ich den Brief eines mir nicht bekannten Anwalts aus München, in dem dieser mir erklärte, ich hätte eine Wette gewonnen. Er wolle mir eine Prämie von hundert Euro überweisen, wenn ich ihm im Gegenzug einen Vertrag unterzeichne, in dem ich auf sämtliche Forderungen im Zusammenhang mit der Wette, insbesondere auf das Urheberrecht, verzichte. Sofort rief ich Jonas an und verlangte eine Erklärung. Doch dieser zeigte sich ahnungslos.
Kaum ein Jahr später las ich in der Süddeutschen von einem Start-Up, das eine neue Wette-App höchst erfolgreich auf den Markt gebracht hatte. Dabei handelte es sich um ein Spiel, bei dem der Nutzer künftige Entwicklungen aus den Bereichen Politik, Wirtschaft und Gesellschaft prognostizieren und, wenn er richtig lag, sogenannte »Betcoins« gewinnen konnte. Ich war nicht überrascht, dass dieses Start-Up wenig später von Google aufgekauft wurde. Damit konnte man im Silicon Valley nicht nur das Verhalten der Menschen, sondern auch deren Erwartungen voraussehen. Der Kommerzialisierte Erwartungsüberschuss war geboren.

Jetzt, am letzten Tag im Jahr 2029, sitze ich in meinem Zimmer an meinem Schreibtisch und schaue aus dem Fenster. Draußen schneit es wie verrückt. Ich habe kein schlechtes Leben. Wir haben genug zu essen und zu trinken, genug zu lesen und zu reden, es gibt einen Turnsaal, ein Musikzimmer, ein kleines Kino. Es ist warm. Wenn ich in der Früh aufwache, schreibe ich auf, was ich geträumt habe. Es gibt im Lager eine Schreibgruppe, an der ich teilnehme. Da lesen wir uns gegenseitig unsere neuen Texte vor. Mich stört es kaum noch, dass alles aufgezeichnet wird. Die Überwachungsbehörde kennt uns durch und durch, lässt uns aber in Ruhe leben und arbeiten. Und ich lande immer wieder bei meiner Frage: Ist dieses Leben echt?
Ich rechne nicht damit, dass ich Wien oder Nürnberg noch einmal sehen werde. Jonas wird wahrscheinlich denken, ich sei untergetaucht, um den Behörden zu entkommen. Außerhalb des Lagers weiß niemand, dass ich hier bin. Meine Gedanken sind frei, aber frei bewegen kann ich mich nicht. Wenn ich ehrlich bin, muss ich zugeben, dass ich an der Entwicklung des Kommerzialisierten Erwartungsüberschusses nicht unbeteiligt war. Wer weiß? Hätte ich damals meinem Freund Jonas diese dumme Wette nicht vorgeschlagen, säße ich jetzt vielleicht nicht auf Island fest.

ENDE

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