»Wir haben uns in einem Bürgerrat kennen gelernt. Das muss 2032 gewesen sein.« Die alte Frau nimmt einen Schluck Kaffee aus ihrer Tasse. »Damals war ich 29, und Simon war 27. Solche Räte gab es ja schon vor der Großen Katastrophe, aber damals hatte die Politik deren Empfehlungen im Großen und Ganzen ignoriert. Das sind noch Alibiveranstaltungen gewesen. Wir aber – es stimmt doch, Simon, dass es 32 war? – konnten unsere Beschlüsse weitgehend durchbringen. Es ging damals um den deutschen Beitrag zur Schaffung der Internationalen Polizei IPO, die die nationalen Armeen in den Folgejahren ersetzt hat.«
Priska checkt, ob das Transkriptionsprogramm arbeitet. Sie kann fast in Echtzeit mitlesen, was ihre Großmutter sagt. »War es Liebe auf den ersten Blick?«, fragt sie und findet die Frage sogleich etwas naiv.
Antonia lacht. »Nein, wirklich nicht. Also zumindest nicht von meiner Seite. Aber frag Simon, wie es für ihn war.«
Priska wendet sich ihrem Großvater zu, ohne die Frage zu wiederholen.
»Also ich fand deine Großmutter von Anfang an sehr attraktiv«, sagt der alte Mann mit ernster Miene, »aber wir waren politisch halt sehr weit auseinander.«
»Aha, das interessiert mich«, frohlockt die 17-jährige Enkelin, »wie war denn deine politische Einstellung?«
Simon zögert. Sein Blick wandert von der Esstischlampe zu einem der Wohnzimmerfenster und wieder zurück.
Antonia springt für ihn ein. »Weißt du, Priska, das waren wirre Jahre, von 2027 bis 2030, der Atomunfall in Tricastin, die verheerende Heuschreckenplage, die Ernteausfälle, die Hungersnot, die vielen Flüchtlinge, das kann ich dir gar nicht alles beschreiben, die politischen Unruhen und Plünderungen, die vielen Kleinkriege und der ständig drohende große Atomkrieg. Eine schreckliche Zeit. Zur Ruhe kamen die Dinge erst mit der Großen Internationalen Konferenz in Rom im Februar 2030. Die Weltbevölkerung war in den Jahren davor um zwei Drittel geschrumpft.«
»Aber Oma, das weiß ich doch alles«, protestiert Priska, »mich interessiert eure ganz persönliche Geschichte! Das andere kann ich überall nachlesen.«
»Sie ist dir sehr ähnlich«, bemerkt Simon in Antonias Richtung.
Priska tut, als hätte sie das nicht gehört. »Also Opa, wie war deine politische Einstellung?«
Simon schaut verlegen zu Antonia.
Diese dreht den Kopf zu Seite.
Er reibt sich die Hände und überlegt eine Spur zu lange, wie Priska beobachten kann.
Dann legt er endlich los: »Um ehrlich zu sein, ich habe damals nicht an die Demokratie geglaubt. Schon die Zeit vor 2027 hat doch gezeigt, dass das ewige Gerede zu nichts führt. Ich wollte, dass man den Menschen straffe Zügel anlegt. Ja, ich war überzeugter Anhänger der Autokratischen Bewegung.«
»Und was hat diese Bewegung gemacht?« Priska kann spüren, dass ihre Frage einen wunden Punkt berührt.
Nun schaut der Großvater verlegen zu Boden.
»Vielleicht ist das die falsche Frage«, mischt sich Antonia ein, »vielleicht solltest du fragen, wie ich ihn überzeugt habe.«
»Du hast mich nicht überzeugt!« fährt Simon dazwischen. »Ich habe meine Einstellung – nun ja, den veränderten Umständen angepasst. Wenn wir uns damals durchgesetzt hätten, noch vor dem Atomunfall, dann hätten wir diese verheerende Massenflucht verhindern können. Dann wäre – zumindest in Europa – der Schaden nicht dermaßen groß gewesen.«
Priska und Antonia schweigen betreten.
»Verzeih, Priska, aber du verstehst so vieles nicht …«
»So ein Schwachsinn«, schnauzt ihn Antonia an, »Priska versteht die Dinge besser als du! Schau dir doch die Zeit des Aufbruchs an! Wer hat die Welt denn so hingestellt, wie sie heute ist? Wir können froh sein, dass ihr euch nicht durchgesetzt habt! Eure Bewegung hätte uns alle zu Sklaven gemacht!«
Es entsteht eine Pause. Priska checkt ihr Aufnahmegerät. Antonia atmet tief durch, um sich zu beruhigen. Und Simon fixiert das Muster des Teppichs.
»Ich würde gerne mehr über die Zeit des Aufbruchs erfahren. Was hast du da gemacht, Antonia?«
»Ich kann mich noch erinnern, als es geheißen hat, die Generalsekretärin der neu gegründeten United Earth ist eine Frau. Die Vorgängerin UNO hatte ja ausschließlich Männer an der Spitze gehabt. Aber dann war da plötzlich diese stolze Afrikanerin mit dem strengen Gesichtsausdruck. Plötzlich hatte eine wahre Autorität das Sagen. Und die United Earth war ja von Anfang an mit Kompetenzen und Durchgriffsrechten ausgestattet. Da gebe ich Simon recht, die so genannten Resolutionen der UNO haben nichts bewirkt.«
»Wo warst du, als Morkor Nkwesi ihre erste Ansprache hielt?«
»Ich lebte damals etwas außerhalb von München. Aber als die Ansprache übertragen wurde, war ich gerade bei einer Fahrraddemo in der Münchner Innenstadt. Neben mir fuhr so ein Typ mit Rastalocken, der sein Radio laut aufgedreht hatte. Ich erinnere mich noch, dass eine Passantin auf uns gezeigt und zu ihrem Kind gesagt hat: ›Das sind die, die sich kein Deo leisten können.‹«
»Was ist ein Deo?«, fragt Priska.
»Ein Deodorant. Irgendein chemisches Zeug, das man sich früher unter die Achseln gesprüht hat, um nicht nach sich selbst zu riechen.«
»Aha. Und kannst du dich noch erinnern, was genau die neue Generalsekretärin von United Earth gesagt hat?«
»Nein, im Detail weiß ich das nicht mehr. Ich weiß nur, dass eine Welle der Erleichterung durch die Bevölkerung ging. Nicht nur in Europa. Auch im Globalen Süden, vor allem in Afrika.«
»Ich kann mich noch erinnern, was sie gesagt hat«, meldet sich Simon zu Wort. »Sie hat Friedensverhandlungen angekündigt. Und sie hat von Anfang an die Ziele der Verhandlungen festgelegt. Alle UE-Mitgliedsstaaten haben ihr Papier unterzeichnet. Ich weiß noch, dass sie es vor allem auf die Produktion und den Transport von Waffen und Munition abgesehen hat. Und, so viel ich mich erinnere, wurde auf ihre Initiative hin jeder Krieg als völkerrechtswidrig gebrandmarkt, egal ob er als Angriffs- oder Verteidigungskrieg oder was auch immer bezeichnet wird. Unter ihrer Führung wurde auch der Begriff ›Terror‹ klar definiert und die Schaffung der IPO eingeleitet. Und da haben wir uns ja kennen gelernt, deine Großmutter und ich.«
»Stimmt. Ich erinnere mich«, übernimmt Antonia das Wort, »wir waren in einer Arbeitsgruppe, die das Attentat von 2016 in München evaluieren sollte. Damals sind wir, Simon und ich, das erste Mal so richtig aneinandergeraten.«
»Warum?«
»Das soll dir Simon erklären«, gibt Antonia den Ball weiter.
»Warum, Opa, habt ihr gestritten?«
»Gestritten. Ja, das ist das richtige Wort! Ich war der Meinung, dass jeder Terrorakt ein politisches Motiv hat. So gesehen waren die Attentate der RAF in den 1970er Jahren nichts anderes als der Anschlag, den wir evaluieren sollten. Doch Antonia maß mit zweierlei Maß. Für sie war linker Terror nicht das Gleiche wie rechter Terror …«
»Falsch!«, protestiert Antonia. »Terror ist Terror. Der eine ist nicht besser als der andere. Ich habe lediglich die politische Haltung kritisiert, die hinter dem Attentat von 2016 stand.«
»Das habe ich anders in Erinnerung«, murrt Simon.
»Und was war das Ergebnis eurer Arbeitsgruppe?«
»Wir waren insgesamt sieben Personen. Neben deinem Großvater und mir waren da ein pensionierter Richter, eine Architektin, ein Elektriker, eine Biologiestudentin und – weißt du noch, wer die siebente Person war?«
»Das war doch dieser Flüchtling aus Syrien, der kaum Deutsch konnte.«
»Ach ja, stimmt, Omar. Der kam noch vor der Großen Katastrophe als unbegleiteter minderjähriger Flüchtling nach Deutschland. Da tobte in Syrien schon der Krieg. Was aus diesem Omar wohl geworden ist?«
»Und zu welchem Schluss seid ihr gekommen?«
»Irgendwo am Dachboden muss es einen Ordner geben, wo ich alle Papiere von damals aufgehoben habe. Ich erinnere mich, dass der Ex-Richter sehr viel geredet hat. Und kaum jemand hat ihm widersprochen. Seine politische Einstellung weiß ich nicht mehr«, gesteht Antonia.
»Und du, Opa?«
»Dieser Richter war ein Klugscheißer. Nur weil ich mich in der Materie auskenne, muss ich die anderen nicht behandeln wie kleine Kinder. Mir war der Typ unsympathisch.«
»Hm, dieser Ordner würde mich interessieren«, sinniert Priska.
»Ich glaube, den Ordner nimmst du zu wichtig«, sagt Antonia. »Diese Räte gab es ja nicht nur in Bayern, die gab es in ganz Deutschland, überall in Europa und auf der ganzen Welt. Wir waren vielleicht ein Rat unter Tausenden.«
»Trotzdem, mich interessiert, zu welchen Ergebnissen ihr beide gekommen seid.«
»Wir haben 2035 geheiratet«, lacht Antonia, »und noch davor kam deine Mutter zur Welt.«
Nach einem gemeinsamen Mittagessen zieht sich Simon zu einem Nickerchen zurück und die beiden Frauen machen einen Spaziergang. Priskas Großeltern wohnen in einem alten Fachwerkhaus auf dem Dorf im Nürnberger Land. Nach wenigen Gehminuten befinden sich die alte Frau und ihre Enkelin im Wald.
Antonia fragt: »Wozu brauchst du dieses Interview eigentlich?«
»United Earth hat einen Schreibwettbewerb ausgerufen. Das Thema lautet: ›Facetten des Aufbruchs‹. Die Aufgabe besteht darin, Berichte von Zeitzeug*innen festzuhalten. Du weißt schon, von der Konferenz in Rom 2030 bis zur Einführung des Bancors sieben Jahre später.«
Antonia bleibt stehen. »Ach ja, ich erinnere mich. Die Währungsumstellung. Wir haben damals gar nicht verstanden, welche Konsequenzen das haben würde. Ja, das war eine spannende Zeit. Aber ehrlich gesagt, wir waren eine junge Familie, und um die große Weltpolitik habe ich mich damals wenig gekümmert. Man hat nur gespürt, dass die Menschen neue Hoffnung hatten.«
Die beiden Frauen setzen sich wieder in Bewegung.
»Und außerdem«, ergänzt Priska, »bin ich nächstes Jahr zum ersten Mal steuerpflichtig. Da möchte ich meinen Text einreichen. Zwei Fliegen mit einem Schlag, verstehst du?«
»Das geht?«, zeigt sich Antonia erstaunt.
»Na ja, es kann sein, dass ich den Text etwas erweitern muss. Aber ich denke, die Steuerbehörde toleriert das. Zumal das ja mein erster eigener Beitrag fürs Gemeinwohl sein wird.«
»Ich kann mich noch erinnern«, erzählt Antonia, »dass wir unsere Steuerschuld mit Geld begleichen mussten. Einen Teil unseres Einkommens hat der Staat einfach kassiert.«
Priska schüttelt ungläubig den Kopf. »Und? Das habt ihr euch gefallen lassen?«
»Da konntest du nichts machen. Wenn du deine Steuer nicht gezahlt hast, warst du Steuerhinterzieher und wurdest streng bestraft. Nur die Superreichen hatten die Möglichkeit, ihr Geld irgendwo zu verstecken.«
»Das ist ja total ungerecht!«
»Ich weiß«, bestätigt die alte Frau, »deshalb musste dieses System ja irgendwann zusammenbrechen.«
»Wir haben in der Schule gelernt, dass es im Zuge der Einführung des Bancors auch eine Reform des Finanzsystems gegeben hat. Seitdem holt sich der deutsche Staat das benötigte Geld bei der Notenbank und die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich sorgt für ausgeglichene Bilanzen. Aber ehrlich gesagt, so richtig verstehe ich den Unterschied zu früher nicht.«
Antonia verlangsamt ihren Schritt. Sie ist jetzt doch schon 74, fit für ihr Alter, aber nicht mehr fit genug, um mit dem Tempo ihrer Enkelin mitzuhalten.
»Da oben, nach der Kurve, kommt eine Bank. Dort würde ich gerne eine Pause machen. Vielleicht kann ich dir etwas erklären.«
Bis zu der Bank gehen die beiden Frauen schweigend nebeneinanderher. Priska kann einen Specht hören und schaut zu ihrer Großmutter. Doch diese beachtet das Hämmern nicht, scheint stattdessen in Gedanken vertieft zu sein. Antonia ist immer noch schön, denkt Priska. Schöne alte Frauen fallen angenehm auf, findet sie. Sie sind schön dank ihrer Ausstrahlung. Ihr Wesen leuchtet von innen her. So etwas lässt sich nicht herbeischminken.
Bei der Bank angekommen, setzen sich die beiden hin. In diesem Moment kommt die Sonne hervor und Priska fällt die Frage ein, die sie schon die ganze Zeit stellen wollte, aber bis jetzt nicht klar vor Augen hatte.
»Warum hast du dich für Simon entschieden?«
Antonia zögert nicht lange: »Ich wusste, dass du das irgendwann fragen würdest«, lächelt die schöne, alte Frau. »Ich weiß nicht, ob ich das beantworten kann. Ich kann es mir selbst oft nicht erklären. Weißt du, Simon ist kein dummer Mensch. Er kann selbständig denken. Und manchmal revidiert er seine Meinung. Als ich ihn kennenlernte, war er in der rechtsradikalen Bewegung aktiv. Seine Ansichten waren eine Katastrophe! Aber anscheinend habe ich ihm gefallen. Und er hat das Gespräch mit mir gesucht. Ich glaube, er wollte mich für seine Ideen gewinnen. Nun, das ist ihm nicht gelungen. Im Gegenteil. Ich konnte ihn immer wieder verunsichern. Das hat mir irgendwie gefallen. Tja, und irgendwann hatten wir Sex miteinander.«
»Für mich ist das ein Glück, Oma«, wirft Priska ein, »sonst wäre ich nicht auf der Welt.«
»Da hast du recht«, lacht Antonia und legt den Arm um die junge Frau, die für ihr Gefühl gerade erst ein Kleinkind war. »Aber eigentlich wollte ich dir etwas anderes erklären.«
»Ja, bitte. Ich höre.«
»Diese Sache mit dem Geldsystem. Ich glaube, das ist wichtig. Aber ich weiß nicht, ob ich alles richtig verstehe. Vielleicht solltest du jemanden fragen, der sich gut damit auskennt. Die Freundin eines Ex-Kollegen ist Ökonomin. Sie könnte dir sicher besser erklären, wie dieses System früher funktioniert hat. Und vor allem, warum man so lange nicht begriffen hat, dass es in die Katastrophe führen musste. Ich meine – stell dir das vor! – noch um 2025 herum war das oberste wirtschaftspolitische Ziel: Wachstum, Wachstum und noch einmal Wachstum!«
»Irre.«
»Manchmal denke ich mir, diesen Atomunfall in Südfrankreich und die Verwüstungen durch die mutierten Heuschrecken hätte es gar nicht gebraucht - andererseits: Vielleicht war alles auch Bestimmung.«
»Bestimmung? Wie meinst du das, Omi?«
»Es gibt da ein Zitat aus dem Buch des Propheten Jesaja, das lautet: ›Er thront über dem Erdkreis, und die darauf wohnen, sind wie Heuschrecken‹ - oder so ähnlich - das war damals in aller Munde. Viele haben geglaubt, Gott mache sich ans Werk, die Gier des Menschen zu bestrafen.«
»Und du? Hast du das auch geglaubt?«
»Also, wenn du mich fragst, Priska, ich glaube, dass es mehr gibt zwischen Himmel und Erde, als wir Menschen uns vorstellen können. Ich kann nicht glauben, dass das, was wir kennen, alles ist, was es gibt.«
»Na ja, aber deshalb muss noch nicht stimmen, was die Bibel prophezeit«, wendet Priska ein.
»Weißt du, es gibt so etwas wie eine sich selbst erfüllende Prophezeiung. Wenn viele Menschen ein bestimmtes Ereignis erwarten, dann wird dieses Ereignis auch wahrscheinlicher.«
»Stimmt«, gibt Priska zu, »davon habe ich schon gehört. Aber nur weil viele Menschen an Gott glauben, bedeutet das nicht, dass es diesen Gott wirklich gibt.«
»Da hast du wohl recht. Aber auf der anderen Seite ist es auch so: Wenn ich an Gott glaube, ist es letztlich egal, ob es diesen Gott gibt oder nicht. Es gibt ihn für mich, weil ich an ihn glaube. Das Geld funktioniert auch nur deshalb, weil die Menschen mehrheitlich an den Wert des Geldes glauben.«
»Interessanter Vergleich«, gibt Priska zu. »Geld gibt es, weil es Schulden gibt. Ohne Schulden kein Geld. Gott könnte es geben, weil es Gläubige gibt. Ohne Gläubige kein Gott?«
»Dann bleibt aber immer noch die Frage«, gibt Antonia zu bedenken, »woher alles kommt. Das Universum. Die Natur. Du und ich. Wie ist das alles entstanden? Und wozu?«
»Keine Ahnung«, lacht Priska, »muss ich das wissen?«
»Nein, wissen musst du das nicht. Du kannst das gar nicht wissen. Aber mir hilft der Gedanke, dass es einen Gott gibt. Ohne diesen Gedanken hätte ich Angst.«
»Interessant«, meint Priska, »neulich habe ich gelesen, dass der Grund für die Gier des Menschen seine Angst war, und zwar die Angst, nicht genug zu bekommen. Die Menschen waren einfach krank!«
Antonia lächelt. Sie ist froh, dass sie eine so schlaue Enkelin hat.
»Wollen wir weitergehen?«
»Eine Frage noch«, sagt Priska schnell: »Wie haben die Menschen es geschafft, ihre Angst zu besiegen?«
»Medikamente«, sagt Antonia und erhebt sich von der Bank. »Manche behaupten auch, dass es Drogen waren, aber das ist Ansichtssache. Man hat das Zeug vermutlich ins Trinkwasser gemischt.«
Als die beiden Frauen von ihrem Spaziergang zurückkommen, liegt auf dem Wohnzimmertisch ein grüner Ordner. Simon hat ihn vom Dachboden geholt. Auf seinem Rücken steht Bürgerrat 2032. Priska überfliegt das Inhaltsverzeichnis, schlägt das Ding zufällig irgendwo auf und beginnt zu lesen:
»Das moderne Geld unterliegt keiner materiellen Schranke. Die Notenbank kann die Geldmenge auf Verlangen eines Staates beliebig vermehren. Wenn von Knappheit die Rede ist, kann nur die Begrenztheit der Natur, der Arbeitskraft und der Lebenszeit gemeint sein. Durch die Eigentumsverhältnisse wandelt sich diese Knappheit zu einem ökonomischen Gut. In der Ökonomik wird die Knappheit dazu genutzt, um natürliche Ressourcen als bezahlbare Werte auszudrücken. Doch die Zahl, die in dem Wort bezahlbar steckt, hat keine natürliche Grenze. Auf lange Sicht driften Preise und Werte auseinander. Die neoklassische Vorstellung von der Tendenz der Märkte, einem Gleichgewicht zuzustreben, entbehrt jeder Grundlage. In Wahrheit ist es so, dass die aktive Störung eines Gleichgewichts das Geschäftsmodell einflussreicher Marktteilnehmer bildet, die auf diese Weise die allgemeine Tendenz zur Machtkonzentration verstärken …«
Priska beginnt zu ahnen, wo der Hund begraben liegt. Soll es ihre Aufgabe werden, diesen Dingen genauer auf den Grund zu gehen? Eigentlich wollte sie Kunst machen. Ihre Mutter sagt immer, sie solle sich nicht auf eine Sache beschränken. Nur wer vier oder fünf Interessensgebiete miteinander verbinde, könne wirklich fruchtbar werden. Zum Glück hat sie die Möglichkeit, völlig frei zu entscheiden, was sie tun will. Ein Leben lang. Das war für Antonia und Simon noch nicht so.
Priska bedankt sich höflich für die Zeit, die sie mit ihren Großeltern verbringen durfte. Simon tätschelt ihr die Schulter und sagt mit dem Ton absoluter Gewissheit: »Du bist goldrichtig!«
Das findet sie dann doch nett von ihrem etwas seltsamen Opa. Sie verabschiedet sich, schwingt sich auf ihr Bike und gleitet nach Hause.