Freitag, 13. Januar 2017

Der Regentropfen Leopold

Die Geschichte eines Regentropfens kennt der Mensch am ehesten von ihrem Ende her. Ein Regentropfen klatscht auf den Asphalt oder das Autodach, zerplatzt in tausend Teile und hört zu existieren auf, noch ehe der interessierte Beobachter den herab fallenenden Tropfen so richtig wahrgenommen hat.
Drehen wir jedoch das Rad der Zeit zurück in eine Richtung, aus der die Zeit kommt, lassen wir den Regentropfen also nicht fallen sondern in die Höhe sausen, dann müssen wir dem Tropfen schließlich auch eine Geburt zubilligen – es ist nicht anders als bei einem Menschen. Der Vergleich mit einem Menschen hinkt übrigens nur bedingt. Wer kann etwa mit Bestimmtheit sagen, dass für die Zukunft eines frisch geborenen Regentropfens niemand Hoffnungen hegt? Wer kann ausschließen, dass ein junger Regentropfen nach den ersten paar Metern freien Falls eine Art Pubertät erlebt? Diese könnte – wäre der Tropfen sich seiner Existenz bewusst – dadurch entstehen, dass der Pubertierende das Ende seines Wachstums bemerkt. Ich falle, also bin ich, könnte die erste Einsicht unseres jungen Tropfens lauten. Und weil es sich in diesem Fall um einen besonderen Tropfen handelt, braucht er auch einen Namen: Polderl, von Leopold.

Polderl ist in unserer Geschichte ein paar Sekunden alt, hat gerade sein Wachstum abgeschlossen, weiß um sich selbst, schlittert in die erste Lebenskrise und denkt über seine Zukunft nach. Er will nicht enden wie alle anderen Regentropfen – er will etwas Besonderes werden. Er will einmal der Regentropfen sein, der das sprichwörtliche Fass zum Überlaufen bringt. Eine schöne Karriere, denkt er. Es wäre doch toll, wenn er Geschichte schreiben könnte, dann bekäme sein Dasein einen Sinn.
In dieser Phase ungehinderten freien Falls ist es beinahe windstill um Polderl, lautlos und einsam segelt er der Erde und seinem Ende entgegen, da versteht Leo – wie er sich jetzt nennt – plötzlich den tieferen Sinn und Zweck allen Daseins, nicht nur seines eigenen im Speziellen, sondern auch den vom großen Rest des Universums. Man könnte diesen Zustand besonderer Erkenntnis »Erleuchtung« nennen. Da Leo aber ein waschechter Regentropfen ist, passt der Begriff »Klärung« vielleicht besser. Wenn nun ein anderer Regentropfen ihn fragen würde, Herr Leopold, was ist denn der tiefere Sinn und Zweck allen Daseins?, dann würde Leo – weil es seine Art ist, sich kurz und bündig zu fassen – sagen: Sinn und Zweck von allem ist, die Zeit zu überwinden, im Augenblick die Ewigkeit zu finden, vom Ende weg zum Anfang hin zu leben. Der andere Regentropfen würde dann vielleicht sagen, dass er da was nicht ganz verstehe, die Geschichte aller Regentropfen zeige doch deutlich, dass das Leben einen Anfang und ein Ende habe und dass jeder Regentropfen in seiner Einzigartigkeit nur einmal lebe, und zwar vom Anfang weg zum Ende hin und dann ist Schluss, das Leben sei doch mit dem Ende unwiederbringlich vorbei, woher die vielen neuen Regentropfen alle herkämen, sei mit dem Verstand eines Regentropfens eben nicht zu klären, da könne man philosophieren so viel man wolle.
Leo würde dann weise wissend vor sich hin lächeln, aber zu diesem Interview kommt es ja nie, einfach weil die Regentropfen heutzutage nichts anderes im Sinn haben, als möglichst schnell zur Erde zu fallen. In diesem Augenblick wird Leo bewusst, dass seine Besonderheit nicht zu einem Gefühl des Stolzes oder gar der Überheblichkeit führen darf. Die Klärung ist schließlich nicht sein Verdienst, sie ist das Geschenk des großen Schöpfers, von dem die Regentropfen seit Ewigkeiten erzählen, er habe zuallererst das Wasser geschaffen und erst danach das Licht, denn – logischer Beweis – wo kein Wasser ist, kann auch kein Licht aufleuchten. Aber, so denkt Leo, vielleicht war ja auch alles ganz anders als die alten Geschichten der Regentropfen erzählen.

Im nächsten Moment kommt Leo in den Sinn, dass seine Existenz von der Zeit abhängt, denn er wäre nicht der, der er nun ist, wenn davor nicht etwas gewesen wäre, aus dem heraus er entstanden ist. Leo fängt an, an seiner Erkenntnis von früher zu zweifeln. Ist es überhaupt möglich, die Zeit zu überwinden? Würde die Zeit nicht vielmehr ihn überwinden? Was wäre, wenn der Schöpfer zuallererst die Zeit geschaffen hat, von der alles abhängt? Ja ist es sogar möglich, dass der Schöpfer eine Schöpferin ist, nämlich die Zeit selbst?
Das ist der Augenblick Leos zweiter Klärung. Die Zeit wird zu seiner Schöpferin und er will nur ihr dienen und sonst niemandem. Leopold beginnt sein Fallen zu genießen. Er freut sich seines Fallens und er freut sich auf sein Ende, ob dieses nun bedeutsam sei oder nicht. Es geht – so denkt er nun – im Leben eines Regentropfens doch nur darum, sich der Freude am freien Fall hinzugeben. Und genießen kann er nur, wenn er sich dem Lauf der Zeit fügt. Und weil die Zeit immer wieder alles ändert, kann auch diese Klärung nicht endgültig sein. Sogar das wird Leo nun bewusst. Er ist eben ein ungesättigter Regentropfen, der jede Anregung für eine neue Klärung gierig in sich aufnimmt. Es muss nur ein wenig Zeit vergehen und er bekommt eine neue Luftschicht zu spüren, die ihn wiederum auf einen neuen Gedanken bringt. Ein Regentropfen fällt nur einmal, ist jetzt seine Lebensphilosophie. Diese steht ohne Zweifel im Widerspruch zu seiner früheren. Als Polderl noch pubertierte, wollte er die Zeit überwinden, oh Gott, war das naiv. Er muss nun über sich selbst lachen.
Aber andererseits, gemahnt ihn sein ausgeprägtes Sensorium für Klärungen, kann nicht ganz falsch gewesen sein, was er früher für richtig hielt, sowie nicht ganz richtig sein kann, was er jetzt denkt. Es kann im Leben eines Regentropfens eben nur vorübergehende Klärungen geben. Genauso, wie Leo von einer Luftschicht in die nächste gleitet, kann er nur von einem Gedanken zum nächsten übergehen, aber er kann nie zu einem letzten endgültigen Gedanken finden, weil, wenn ein Gedanke endgültig wäre, wäre die Zeit tot.

Und so denkt und fällt Leo, bis auch für ihn das Ende kommt. Er zerplatzt in tausend Teile und hört zu existieren auf. Leo wird nie in die Geschichte eingehen, weil kein Fass überläuft und auch sonst nichts Bedeutendes geschieht. Warum wir überhaupt von Leo und seinem Leben wissen? Die Zeit selbst hat alles aufgeschrieben.

1 Kommentar:

  1. ich bin Leo wie wir alle sind Polderls, Leopoldinen, Leopolds und Polderinen.
    jedoch meine regenwolkenwelt bleibt nicht unberührt von meinem dasein auch wenn ich nur einem wassermolekülchen vergleichbar bin.

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