Samstag, 14. Januar 2017

Dreißig Prozent

Träume und Wünsche entführen meine Gedanken in eine schönere Welt. In meinen Träumen bin ich verliebt, erfolgreich und glücklich. In der Realität sind die Dinge leider anders. Hochtrabende Wünsche können leicht zu Enttäuschungen führen. Wenn ich mir die Diskrepanz zwischen Traum und Wirklichkeit vor Augen halte, erscheint mir mein Leben von Leid geprägt. Ist es deshalb falsch zu träumen? Soll ich meine Wünsche deshalb vergessen?

Wenn ich in der Früh aufwache und ich habe keine Hoffnungen für den Tag, dann fällt es mir schwer, das Bett zu verlassen. Ich möchte dann am liebsten wieder einschlafen und alles vergessen. Im Extremfall möchte ich überhaupt aufhören zu existieren. Da ich Hoffnungen brauche, brauche ich auch meine Wünsche und Träume. Wie kann ich aber meine Hoffnungen bewahren, ohne unter den Enttäuschungen zu leiden?

Die Redewendung „weniger ist mehr“ liefert mir eine Antwort. In meinen Träumen und Wünschen will ich hundert Prozent. Wenn ich auf diese hundert Prozent hoffe, dann werde ich enttäuscht werden. Ich werde leiden, weil sich meine Träume und Wünsche nicht realisieren lassen. Null Prozent zu hoffen ist nicht motivierend. Was darf ich also hoffen? Wie stark soll ich an meine eigenen Träume glauben? Von meiner Therapeutin habe ich eine Antwort bekommen, die mich seither beschäftigt. Sie meinte, ich könne auf dreißig Prozent hoffen.

Dreißig Prozent? Was bedeutet das? Nun, dreißig Prozent sind zunächst einmal weniger als die Hälfte. Das entlastet mich. Hundert Prozent sind bei mir nämlich so viel, dass mich jeder Glaube an sie von vorneherein blockiert. Auf der anderen Seite sind dreißig Prozent mehr als die Hälfte von der Hälfte von hundert Prozent. Das ist nicht nichts. Wenn ich also hergehe und sage, ich schreibe einen Roman, und wenn ich gleichzeitig sage, dreißig Prozent sind genug, dann liegt die Latte gerade so hoch, dass ich drüber komme, und außerdem habe ich eine Aufgabe, die mich morgens aus dem Bett bringt.

Fünfzig Prozent wären mir zu viel. Mit fünfzig Prozent bekäme ich in der Schule gerade ein Genügend. Weniger ist mehr. Mit den dreißig Prozent liege ich gerade richtig. Denn das sind immerhin dreißig Prozent meiner Träume und Wünsche. Das ist mehr als sie mir in der Schule bieten konnten.

Vor ein paar Tagen habe ich mit einer Freundin telefoniert, die wie ich unter einem hohen inneren Erwartungsdruck leidet. Ihr habe ich von den dreißig Prozent erzählt. Sie meinte nur, ihr wären dreißig Prozent zu wenig. Am liebsten wären ihr hundert Prozent. Da habe ich mir gedacht, dass es gar nicht leicht ist, sich von den hundert Prozent zu trennen. Genau deshalb reizt mich die Sache. Wenn ich hundert Prozent gewollt hätte, hätte ich diesen Artikel nie geschrieben. Weil dreißig Prozent genügen sollen, bin ich bis hierher gekommen. Meine Freundin klagt inzwischen weiterhin über großen inneren Druck und darüber, dass sie ihr Leben nicht so leben kann, wie sie es eigentlich möchte.

Bei mir bemerke ich folgendes: Seitdem ich mir nur mehr dreißig Prozent meiner Wünsche erhoffe, habe ich wieder mehr Mut zum Träumen.

1 Kommentar:

  1. ich mag die idee von den 30%.
    es heißt nicht, keine anforderungen an mich zu haben, sondern die selbst gesetzten ziele nicht unerreichbar in diffuser ferne entschwinden zu sehen. der mensch sieht, fühlt sich dann ja auch 'gerne' schlecht, unnütz, unfähig. tatsächlich kann ich dieses x% ziel stück für stück erreichen. und möglicherweise auch mehr. darüber hinaus. oder auch nicht. kein problem. und dann der nächste schritt. das nächste ziel. usw...

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