Samstag, 18. Dezember 2021

Glaubenskrise

In Mk 10,17-31 wird die Geschichte einer gescheiterten Berufung erzählt. Jesus sagt zu dem reichen Mann: Geh und verkaufe, was du hast, gib es den Armen. Gott wird es dir danken. Und dann komm und folge mir. Der Reiche aber wurde traurig über Jesu Wort und ging gekränkt weg. Offensichtlich hat Jesus den reichen Mann überfordert. Hätte es nicht genügt, wenn der Reiche 30% seines Vermögens an die Armen verteilt hätte?
Jesus fragt nicht, wie der Mann reich geworden ist. Hat der Reiche andere Menschen übervorteilt? Oder hat er durch ehrliche Arbeit Wohlstand geschaffen und andere daran teilhaben lassen? Jesus war kein Ökonom. Kann er nicht gewesen sein, weil die Ökonomik erst - sagen wir - mit dem Heiligen Thomas von Aquin beginnt. Dies gilt es im Hinterkopf zu behalten, wenn wir das Gleichnis von den anvertrauten Pfunden (Lk 19,11-27) lesen. Da ist von Geld, Banken und Zinsen die Rede. Das sind ökonomische Begriffe. Aber Jesus war kein Ökonom. Er musste nicht "nachhaltig" denken, stand für ihn das Gottesreich doch unmittelbar bevor.
Ich behaupte: Der Mensch lebt nicht von Gottes Wort allein. Der Mensch hat auch materielle Bedürfnisse. Ein Künstler braucht - neben Nahrung und Kleidung - Materialien, um seine Kunst zur Ehre Gottes zu schaffen. Was soll ein Organist ohne Orgel? Was soll ein Maler ohne Farben? Was soll ein Autor ohne Schreibwerkzeug? Hatte Jesus das auf dem Schirm?
Und nun zum Geist des Kapitalismus: Hat sich die christliche Glaubensgemeinschaft je ernsthaft mit den Werken von Max Weber, Karl Marx, Karl Polanyi oder John Maynard Keynes auseinandergesetzt? Wenn ja, wo ist dann zu hören oder zu lesen, wie Christ*innen über die Herrschaft des Geldes denken? Wenn nein, was würde Jesus zu diesem Versäumnis sagen?

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