Sonntag, 5. Dezember 2021

Matt

»Wäre der Neuanfang nach dem Verblühen nicht gewiss«, sagt sie leise vor sich hin, gerade so laut, dass er es hören kann, »erschiene die morbide Schönheit trostlos.«
»Ist das ein Zitat?«
Sie lacht. »Ja und nein. Ich zitiere mich selbst.«
»Nicht schlecht«, sagt er.
Sie setzen ihren Spaziergang um den See wortlos fort. Die Novembersonne hat sich mühsam durch den Frühnebel gekämpft. Das Wasser spiegelt ein mattes Licht.
»Die morbide Schönheit ist eine schöne Wortkombination.« Er lässt seinen Blick über den entlaubten Wald schweifen und bleibt kurz stehen, um ein Taschentuch aus der Jackentasche zu fummeln. In seinen Augen haben sich Tränen gebildet. »Ich kenne zufällig ein anderes Zitat zum Begriff Schönheit: Das Schöne ist das Ende des Schreckens – oder so ähnlich.«
Sie haben den See etwa zur Hälfte umrundet. Im Sommer ist hier viel los. Jetzt haben sich nur vereinzelt ein paar Angler eingefunden, die in der Kälte ausharren und geduldig auf den einen oder anderen Fang warten. Andere Spaziergänger sind an diesem Mittwochvormittag nicht unterwegs.
»Wie meinst du die morbide Schönheit?«
Sie lächelt über seine Frage und hängt sich bei ihm ein. »Nun, ich habe dabei ein Bild im Kopf«, erklärt sie. »Ich sehe das müde und kraftlose Lächeln einer alternden Diva.«
»Aha«, sagt er, »interessant!« In seinem Kopf rattern die Gedanken. Die Diva gibt für ihn ein trauriges Bild ab. Er sucht das Tröstende in ihren müden Augen. »Gibt es für die alternde Diva einen Neuanfang?«
Sie erschrickt ein wenig über seine Frage. Muss sie ihm einen Ausweg anbieten? Kann sie Hoffnung und Zuversicht versprühen? Glaubt sie selbst an einen Neuanfang? »Wenn wir im Tod nicht das Ende sehen, sondern den Neuanfang für etwas gänzlich Unbekanntes, dann muss keine Situation trostlos sein.«
Tja, wenn man an eine Fortsetzung nach dem Tod glauben kann, muss das Altern nicht trostlos sein. »Ja, du hast recht«, sagt er. »Die Schönheit steht und fällt mit dem Glauben.«
»Aha«, sagt sie, »das verstehe ich jetzt nicht ganz.«
»Was ich sagen will: Mit der Freude auf das, was kommen wird, auch wenn ich nicht weiß, was das ist, verliert der Tod seinen Schrecken. Und mit der Freude auf das, was kommen wird, entsteht der Sinn für das Schöne.«
Sie ist erleichtert. Nun hat er sich die Antwort auf seine Frage selbst gegeben.
Auf der letzten Geraden, kurz vor dem Parkplatz, hat sie dann noch eine Idee, die sie sogleich ausspricht: »Eigentlich geht es darum, die Angst vor dem Unbekannten zu besiegen. Wie beim Schach: Schach matt.
«

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